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Geschrieben von Kajana am 22.06.2005 um 18:08:

  Memory (Kurzgeschichte)

Memory

Das knurrende Geräusch des Motors erstarb, als ich den Schlüssel im Zündschloss drehte. Ich zog die Handbremse an und ging mit den Füßen von den Pedalen.
Das Radio meines roten Fiats lief noch. Ich hatte keine Ahnung, welcher Sender eingestellt war. Es spielte irgendeinen aktuellen Pop-Song. Ich hatte ihn schon öfters gehört, wusste aber weder seinen Titel noch seinen Interpreten. Eine Frau sang davon, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Es kam mir vor, als befand sie sich an einem dieser gravierenden Punkte im Leben, in einer dieser Umbruchssituationen, in denen man sich richtungslos und verloren fühlte.
Ich schaltete das Radio aus und stieg aus dem Wagen. Es war ein warmer Tag, an dem Spaghetti-Top und kurzer Rock durchaus reichten, aber der Himmel war mit schmutzigen Wolken bedeckt und die Sonne lugte nur hin und wieder aus kleinen, blauen Löchern hervor.
Ich schloss die Autotür. Mein Wagen parkte gleich neben der blau umrandeten Ortstafel. „Wien Ende“ gab sie in die Richtung, aus der ich gekommen war, an. Ich blickte über die Straße zum Anfang des nächsten Dorfes, das nahtlos an die große Stadt anschloss. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Eckhaus mit gelber Fassade. Es war groß, zweistöckig und mit vielen Fenstern, die das Licht hineinließen, dass es immer hell und freundlich war. An der Straßenseite, mir gegenüber, standen drei hoch gewachsene Linden, deren Blätterdächer voll und leuchtend grün waren und nur von den gelben Blüten unterbrochen wurden.
An der anderen Straßenseite des Eckhauses führte eine schmale Gasse vorbei. Die graue Mauer, die das Grundstück begrenzte, wurde von hölzernen Toren – ein Eingangs- und ein Garagentor – unterbrochen. Man konnte ein Stückchen in den Garten sehen. Ich erblickte den großen Feigenstrauch an der Garagenwand und das runde Vogelhaus, in dem im Frühling die Blaumeisen genistet hatten. Jedes Jahr waren sie zurückgekommen um ihre Jungen in dem Vogelhaus aufzuziehen. Es war selbstgemacht, nicht einfach gekauft. Mein Bruder fertigte es zusammen mit unserem Großvater an.
Jetzt war unser Großvater tot und mein Bruder lebte in den USA.
Ich öffnete die Autortür und griff über den Fahrersitz zum Handschuhfach, wo ich meine Zigarettenschachtel bunkerte.
An mein rotes Auto gelehnt und rauchend, blickte ich zur anderen Straßenseite. „Mein Haus.“, spukte mir durch den Kopf. Mein Bruder wollte es nie. Er hatte immer andere Pläne gehabt. Mein Haus. Mein Zuhause. Der einzige Ort, den ich je so genannt hatte. Nicht etwa die kleine Eigentumswohnung in Wien. Das alles waren Träume der Vergangenheit, die nichts mit der Gegenwart zu tun hatten – nichts mit der Realität.
Nicht mein Haus. Vater hatte es verkauft, nachdem Mutter uns verlassen hatte.
Ich überlegte, ob ich hingehen sollte um nachzusehen, wer nun dort wohnte. Bestimmt gab es ein Namensschild am Postkasten oder über der Glocke.
Es dauerte noch eine ganze Zigarette bis ich mich dazu durchringen konnte. Ich schritt die allzu bekannte Straße hinüber und die schmale Gasse entlang. Alles war so vertraut, als wäre ich nie weg gewesen. Keine zwölf Jahre, die zwischen mir und meinem Haus standen.
Ich gelangte beim Tor an. Kein Namensschild war zu sehen. Stattdessen eine Aufschrift in großen, schwarzen Lettern: ZU VERKAUFEN. Und darunter eine Handynummer.



Geschrieben von TN-Miami am 22.06.2005 um 18:23:

 

Geniale Kurzgeschichte! Ich liebe sie! *gg*
Nein, wirklich seeeeehr gut, Kompliment!



Geschrieben von Wölfchen am 22.06.2005 um 18:35:

 

So siehst du dich also in zwölf Jahren? Ich glaub nicht, dass dein Auto das mitmacht XD und sobald du zu rauchen anfängst hack ich dir die Finger ab *muhaha*

Aber im Ernst, ich find das Geil! Gerade diese "Momentaufnahmen" sind immer gut, ich bin meistens zu faul um sowas zu schreiben *hüstel*



Geschrieben von Kajana am 22.06.2005 um 18:37:

 

Dankeschön ihr zwei!

@ Wölfchen
Das soll jetzt nix realistisches sein. Hätte jedes x-beliebige Haus nehmen können. Brauchte nur ne Vorlage für die Story.
Keine Sorge, mein Auto wird das sicher net mitmachen und du kannst mir gerne die Finger abhacken, wenn ich rauchen anfange. *gg*



Geschrieben von Jani am 22.06.2005 um 18:45:

 

Hach, wie schön. ich mag nostalgische geschichten... und du schrebst saugut!!!! fröhlich
ich nehm mal an, das war auch schon, wenns ne Kurzgeschichte ist... traurig Würde sicher auch was gutes langes gesben



Geschrieben von Kajana am 22.06.2005 um 18:48:

 

²Jani
Aye, das wars schon. Ich mag das offene Ende *gg* Man weiß ja net, wies weitergeht *gg*
Vielleicht hab ich ja mal wieder so einen Geistesblitz.
Danke für das Lob jedenfalls *freu*


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