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Geschrieben von Linkenfels am 10.07.2010 um 09:39:

  Und da draußen spielt das Leben tausend wunderschöne Lieder

Sie hatte ihr Zimmer seit Wochen nicht verlassen. Der Herbst schickte oft Regen, der ungleichmäßig gegen die Fensterscheiben schlug und in willkürlichen Bahnen an ihnen hinabrann. Früher hatte sie sich so oft an den bunten Blättern im Innenhof erfreuen können, die den dunklen Kies und das feuchte Moos bedeckten. Heute war sie alledem überdrüssig geworden.
Der kastanienbraune Rock reichte ihr knapp über die Knie, sein Saum wippte sanft, als sie ins Wohnzimmer ging und vor einem Regal stehenblieb. Andächtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über die breiten, einladenden Buchrücken. Sie hatte sie alle hier vereint, all die Größen der deutschen Literatur. Seite an Seite, Band an Band standen sie hier aufgereiht, Goethe, Mann, Dürrenmatt. Eine stolze Sammlung war es, die sich in den vergangenen Jahren hier zusammengefunden hatte. Es waren Erbstücke und Schätze, die sie auf Flohmärkten und in Antiquariaten erworben hatte. Die Vergangenheit hatte diese Bücher zu ihrer neuen Leidenschaft gemacht. Sie standen ihr immer zur Seite, so klar verständlich, so offen und ehrlich. So unverzerrt. Sie waren alles, was sie in dieser Welt vermisste. Behutsam umfasste sie eines der Bücher, die aus der Reihe ein wenig hervorstanden. Diese Bücher hatte sie nicht etwa unachtsam weggeräumt. Es waren ihre liebsten Werke, die sie stets griffbereit hatte. Ein Gedichtband war es, den sie aus dem Regal zog und für einen Augenblick innig an ihre Brust drückte. Ihre Augen schlossen sich, ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Da sprudelten sie nun in ihren Händen, die Abenteuergeschichten und unerwiderten Lieben, die ihr Herz erfrischen könnten. Sie würde darin lesen und sich weiter davontragen lassen, als der Wind vor ihrem Fenster es je vermochte.
Impulsive Jazzmusik erfüllte den hohen Raum, als sie sich setzte. Der drängende Rhythmus erreichte sie nicht, als sie vollkommen entspannt ihren Rock glatt strich, die Beine adrett überschlug und schließlich das Buch in ihren Händen auf ihrem Oberschenkel bettete. Andächtig schlug sie das hübsch verzierte Sammelwerk auf, atmete mit genüsslich geschlossenen Augen den Geruch der alten, porösen Seiten ein.In Momenten wie diesen erschien das Leben ihr lebenswert. Die Verse schnürten ihr auf angenehme Art und Weise die Kehle zu. Sie lächelte, als eine stumme Träne ihr Gesicht herab lief. Als ihr Blick wieder auf die Seite fiel, schlug sie das Buch zu. Jemand war an der Tür. Eilig legte sie das Buch auf das weiche Polster neben sich, ehe sie sich erhob und raschen Schrittes zur Haustür ging, um sie zu öffnen. Knapp nickte sie dem Postboten zu, der sie erstaunt betrachtete und ihr den Brief übergab, nach dem er emsig in seiner Tasche gewühlt hatte. Dann schloss sie die Tür und ging in ihr Arbeitszimmer, um dort aus einer Schublade den Brieföffner zu suchen.
Bereits beim Lesen der Adresse hatte sie sich gewundert. Es war ein Brief von ihrer Tante, die geschäftlich nach Zürich verreist war. Sie teilte ihr vieles mit über moderne Medizin und neue Technologien, über Geräte, so schrieb sie, die kranken Menschen den Alltag erleichtern konnten. Ärgerlich legte sie den Brief samt Öffner zurück in die Schublade, ohne das Geschriebene zu Ende gelesen zu haben. Soetwas musste sie sich nicht bieten lassen. Die Stirn in Falten gelegt ging sie zurück ins Wohnzimmer, um die Jazzplatte vom Spieler zu nehmen. Den Sprung hatte sie gar nicht wahrgenommen. Jetzt ärgerte sie sich, als sie die Platte zurück in den Schrank legte und von der Garderobe im Flur ihre Jacke nahm. Sie würde hinaus gehen. Hinaus in den Regen, in den Wind, in den Herbst, den sie früher so geliebt und in den letzten Jahren immer mehr gemieden hatte.
Hinaus in den Regen, die Straße hinunter, weiter in Richtung des Kanals ging sie. Sie ging gemächlich. Dass ihr braunes Haar in Windeseile nass an ihren Schultern und in wenigen Strähnen auch in ihrem Gesicht klebte, störte sie gar nicht weiter. Auf der anderen Straßenseite erblickte sie eine alte Bekannte. Das Gesicht der Frau war verzerrt, ihr Mund weit aufgerissen, als sie ihr heftig zuwinkte. Sie lächelte und nickte der Frau knapp zu, bevor sie sich abwandte und weiterging. Sie wollte etwas Summen. Eine alte Melodie, die sie an ihre Jugend erinnerte. Doch der Ton blieb ihr im Hals stecken. Sie schreckte ein paar Tauben im Umfeld auf, als sie sich auf einer Parkbank niederließ. Beinahe hätten es die Tauben geschafft, sie aufzuschrecken. Viel zu lang war sie nicht mehr draußen gewesen. Es war, als hätte die Welt seit dem Unfall ihren Reiz verloren.
Der Regen, der nicht mehr prasselte. Der Wind, der nicht mehr rauschte. Das Laub, das nicht mehr raschelte.
Nun ruhte ihr Blick auf dem Kanal. Das Wasser warf wilde Wellen und ließ ein kleines Papierschiff bedrohlich Schaukeln. Ein Kind musste es am Nachmittag losgeschickt haben. Sie vermisste das Kinderlachen. Ihre Söhne waren längst erwachsen, längst außer Haus. Sie hatte die beiden lange nicht mehr lachen sehen. Die aufgeschreckten Tauben kamen zu ihr zurück, plusterten sich auf, tapsten ungeduldig zu ihren Füßen auf und ab. Lächelnd wandte sie sich vom Wasser ab und betrachtete die Vögel am Boden, ehe sie in ihrer Jackentasche nach ein paar Krümeln fühlte, die sie den Tieren hinwerfen konnte. Hektisch stürzten sich die Vögel auf die wenigen Krumen am Boden, die zwischen Zigarettenstummeln und dem Dreck der belebten Straße aufgekommen waren. Doch die Vögel wirkten dankbar. Sie pickten und schlugen mit den Flügeln und gaben sich zufrieden mit der bescheidenen Gabe. Sie zogen weiter zur nächsten Bank. Eine alte Dame brach gemächlich Stücke von einem vertrockneten Brot ab. Es war ihr gleich. Der Regenschauer lichtete sich einmälig und ihr kam das Gedicht in den Sinn, an dem sie sich des Nachmittags so hatte erfreuen können. Eine Schmach, dass sie das Lesen nicht vollendet hatte. Doch sie kannte das Gedicht in und auswendig. Adler und Taube, eines ihrer liebsten Werke von Goethe. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, als sie sich den Rest des Gedichts in den Sinn rufen wollte. Die letzten Verse, die ihr immer klarer vor Augen kamen.Einen Augenblick saß sie reglos da. Ihr Blick war auf den Straßenmusiker auf der anderen Seite des Kanals gefallen. Er spielte Gitarre, sein Mund stand offen. Er sang. Zwei Kinder tanzten neben ihr. Sie hörte ihn nicht. Sie würde ihn nicht hören, stünde sie direkt neben ihm. Hier draußen, wo das Leben tausend wunderschöne Lieder spielte, lächelte sie und wippte mit dem Kopf leicht einen Takt mit, den sie nur erahnen konnte, so munter, wie die kleinen Kinder tanzten. Die Abendsonne brannte auf ihrem Gesicht. Es hatte aufgehört zu regnen.



Geschrieben von Toastii am 12.07.2010 um 09:19:

 

Wieso sagt dazu denn niemand etwas? Das wundert mich doch sehr. Leute, ihr müsst was sagen, sonst hab ich Linkenfels ja umsonst ermuntert, sie hier rein zu stellen.
Ich finde die Geschichte toll. Sie ist irgendwie traurig, aber sie ist toll. Ich kann mir das so gar nicht vorstellen, wie das Leben so ist, ohne dass man etwas hörte. Aber natürlich, irgendwie kommen die Menschen damit klar.

Mir gefällt dir Idee mit dem eingebauten Gedicht und die Art, wie es geschrieben ist. (:



Geschrieben von Saddy am 12.07.2010 um 16:22:

 

hätte schon eher geschrieben wenn ich mehr zeit gehabt hätte, sorry Augenzwinkern

finde den text sehr schön, vorallem dass einerseits die Taubheit im Mittelpunkt steht, aber das einem nicht aufgedrängt wird. Sehr schön rübergebracht smile
Am Anfang hattest du aber einige Schreibfehler:

Sie hatte ihr Zimmer seit Wochen nicht verlassen. Der Herbst schickte oft Regen, der ungleichmäßig gegen die Fensterscheiben schlug und in willkürlichen Bahnen an ihnen hinabrann(hinabrinnen, hinabfließen->zusammengesetztes Verb). Früher hatte sie sich so oft an den bunten Blättern im Innenhof erfreuen können, die den dunklen Kies und das feuchte Moos bedeckten. Heute war sie alldem(ohne e) überdrüssig geworden.
Der kastanienbraune Rock reichte ihr knapp über die Knie, sein Saum wippte sanft, als sie ins Wohnzimmer ging und vor einem Regal stehenblieb. Andächtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über die breiten, einladenden Buchrücken. Sie hatte sie alle hier vereint, all die Größen der deutschen Literatur. Seite an Seite, Band an Band standen sie hier aufgereiht, Goethe, Mann, Dürrenmatt. Eine stolze Sammlung war es, die sich in den vergangenen Jahren hier zusammengefunden hatte. Es waren Erbstücke und Schätze, die sie auf Flohmärkten und in Antiquariaten erworben hatte. Die Vergangenheit hatte diese Bücher zu ihrer neuen Leidenschaft gemacht. Sie standen ihr immer zur Seite, so klar verständlich, so offen und ehrlich. So unverzerrt. Sie waren alles, was sie in dieser Welt vermisste. Behutsam umfasste sie eines der Bücher, das(eines der Bücher->Einzahl) aus der Reihe ein wenig hervorstanden. Diese Bücher hatte sie nicht etwa unachtsam weggeräumt. Es waren ihre liebsten Werke, die sie stets griffbereit hatte. Ein Gedichtband war es, den sie aus dem Regal zog und für einen Augenblick innig an ihre Brust drückte. Ihre Augen schlossen sich, ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Da sprudelten sie nun in ihren Händen, die Abenteuergeschichten und unerwiderten Lieben, die ihr Herz erfrischen könnten. Sie würde darin lesen und sich weiter davon tragen lassen, als der Wind vor ihrem Fenster es je vermochte.
Impulsive Jazzmusik erfüllte den hohen Raum, als sie sich setzte. Der drängende Rhythmus erreichte sie nicht, als sie vollkommen entspannt ihren Rock glattstrich(glattstreichen ->ein Wort), die Beine adrett überschlug und schließlich das Buch in ihren Händen auf ihrem Oberschenkel bettete. Andächtig schlug sie das hübsch verzierte Sammelwerk auf, sog mit genüsslich geschlossenen Augen den Geruch der alten, porösen Seiten auf(glaube es heißt den Geruch aufsaugen, bin mir hier aber nicht sicher).

In den restlichen Abschnitten sind sie mir nicht so aufgefallen, kann aber auch sein, dass ich vor lauter lesen und Inhalt nicht mehr so darauf geachtet habe.
Alles zusammen sehr schön geschrieben Augenzwinkern



Geschrieben von kleine-Araberstute am 12.07.2010 um 18:51:

 

Hallo smile

Ich muss ehrlich sagen, eigentlich hatte ich keine Zeit zum Lesen, aber der Titel hat mich ja doch neugierig gemacht.
Du kriegst deswegen von mir keine "Kleinkritik", sondern einen groben Eindruck: Es ist zeitweilens etwas langatmig. Natürlich hat es keine Spannung, wie man sie zum Beispiel in einem Roman erwarten würde, aber an manchen Stellen fehlt doch auch die Motivation, weiter zu lesen.

3 Kleinigkeiten:

1) lebenswert wird klein geschrieben Augenzwinkern
2) adrett die Beine überschlagen: lass lieber dieses 'adrett' weg. Das klingt zu ausgelutscht und wurde schon viel zu oft verwendet.
3) das gleiche gilt für 'emsig' im Zusammenhang mit dem Briefträger.

Liebe Grüße



Geschrieben von Nici am 13.07.2010 um 13:09:

 

Ich finde deinen Stil zu Beginn sehr schön, auch wenn ich den mittleren Teil - um ehrlich zu sein - noch nicht ganz gelesen habe!
Die Traurigkeit, bzw. Isoliertheit wird zum Schluss ganz deutlich, irgendwie hast du das wahnsinnig schön hinbekommen, es berührt mich sehr!



Geschrieben von Linkenfels am 14.07.2010 um 09:51:

 

ToastiiSaddykleine-AraberstuteSnowflakeNici



Geschrieben von Saddy am 14.07.2010 um 17:21:

 

kein problem.

oh ok^^ hatte das so in der Schule gelernt und man hat uns da leider verschwiegen das man alldem oder auch alledem schreiben kann.
Das mit den Büchern hatte mich verwirrt, danke.

Dafür das es dein erster Text über soetwas war, hast du es wirklich sehr gut rübergebracht smile


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