Geschrieben von kleine-Araberstute am 22.02.2008 um 16:15:
Gänseblümchen | Kurzgeschichte
Hey guys,
die folgende Geschichte habe ich schon vor Ewigkeiten geschrieben, für einen Wettbewerb. Das Thema war "Ich will [nicht]". Der Wettbewerb hatte ganze zwei Einsendungen - ich kann also nicht ganz stolz auf den Sieg sein.
Wie findet ihr sie?
Liebe Grüße
Kerstin
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Gänseblümchen
„Ich will. Ich will nicht. Ich will. Ich will nicht.“ Lange schaute ich auf das kleine, weiße Blütenblatt zwischen meinen Fingern. Das letzte Blatt.
„Ich will“, schloss ich und warf den Stängel weg, stand auf, blickte in den wolkenlosen Himmel. Heute war ein nahezu idyllischer Tag, selten in der Großstadt.
Ich wollte also.
Einfach so hatte mir dieses kleine Blümchen die Entscheidung abgenommen, hatte nicht einmal gefragt, worum es eigentlich ging. Trotzdem setzte ich mein ganzes Vertrauen, meine ganze Hoffnung in die Blütenblätter, in die Entscheidung der Blume, ihren Entschluss. Hatte ich ihn einmal gefasst, ob durch Gänseblümchen, Münzenwerfen oder Auslosen, gab es kein Zurück mehr.
Ich wollte also mit ihm schlafen.
Mit ihm, Tobias, dem coolsten Typen der Schule. Er war vier Jahrgänge über mir, eigentlich fünf; sitzen geblieben. Er rauchte, ging auf Partys, nahm manchmal richtig harte Drogen. Wer mit ihm ging, gehen durfte, hatte den Durchbruch geschafft. Jedes Mädchen war in ihn verknallt, selbst jene, die einen Freund hatten. Etwas anderes blieb einem auch gar nicht übrig. Da war es doch auch klar, dass ich mit ihm gehen wollte.
Beziehungsweise schlafen.
Das ging aber nicht so einfach, Tobi hatte da so seine eigenen Regeln. Jeden Monat hatte er eine Neue – und diesen Juli war ich die Auserwählte! Es war das größte Kompliment, das ein Mädchen bekommen konnte, wenn am 23. ein kleines, zerknittertes Zettelchen im Schulbuch steckte.
„Wihlst du mid mier schlahfen?“, stand dort jedes Mal in seiner Schrift, die niemand nachahmen konnte. Wie eine Linie sah sie aus, eine Linie mit kleinen Hubbeln.
Fand ein Mädchen einen solchen Zettel in ihrem Schulbuch vor, fing sie an lauthals zu kreischen und mit ihr die besten Freundinnen und Klassenkameradinnen.
Ab diesem Zeitpunkt gab es kein Zurück mehr, auch wenn das Mädchen wollen würde. Aber natürlich wollte das Mädchen immer, es hatte zu wollen.
Nachdem sich in der ganzen Schule herumgesprochen hatte, wer die Glückliche war, holte Tobi sie am 1. aus der Klasse ab, küsste sie vor allen und schob seine warme, raue (zumindest erzählte man sich, dass sie warm und rau war) Hand unter ihr Shirt. Sie kicherte und zusammen gingen sie in seine Wohnung, wo sie dann miteinander „schlahfen“ würden.
Ich hatte mir immer gewünscht, eines dieser Mädchen zu sein, und jeden 23. meine Schulbücher nach dem ersehnten Zettelchen durchsucht. Aber jetzt, wo ich eines gefunden hatte, kamen diese Zweifel.
Diese verfluchten Zweifel, die das Hochgefühl, das ich eigentlich empfinden sollte, verdrängten und die mich dazu gezwungen hatten, in den Garten zu gehen und ein Gänseblümchen zu rupfen.
Heute war der 31., morgen würde ich also mit ihm schlafen. Mein erstes Mal. Klar, ich hatte schon mehr als einen festen Freund gehabt, aber Sex war da doch eine höhere Liga.
Und ich hatte Angst.
Wovor, wusste ich auch nicht so genau. Etwa davor, wieder abzusteigen und in der Regionalliga zu spielen? Oder doch eher vor dem Sex an sich?
Alle, die Tobias auserwählt hatte, schwärmten von diesem Mal mit ihm. Als ich sie dann aber gefragt habe, ob es wehtun würde, hatten sie alle das Thema gewechselt oder dringend irgendwohin gemusst.
Dabei musste es nicht wehtun, das wusste ich von Jacky. Als sie mit David geschlafen hatte, war es schön gewesen, meint sie immer.
Ich seufzte und ging zurück ins Haus. Ich musste gleich noch einkaufen gehen, grünen Lidschatten. Der betont deine Augen so schön, hatte Mike mal gemeint und morgen würde ich mich für Tobi schminken. Das letzte Mal als Mädchen, morgen Abend war ich eine Frau. Eine richtige Frau, die keine Angst mehr vor ihrem ersten Mal hatte.
Ich schloss die Tür hinter mir und ging durchs Wohnzimmer, dann die Treppe hoch und ins Bad. Dort betrachtete ich mich im Spiegel. Zuerst meine geschminkten Augen, dann meine kleine Nase und schließlich meinen viel zu kleinen Mund. Mein Blick glitt weiter tiefer zu meinem Busen, der im Vergleich zu den anderen Mädels meiner Klasse doch schon recht groß war.
Da fiel mein Blick auf etwas kleines Weißes.
An meinem dunkelroten Shirt hing es, das kleine, weiße Blütenblatt des Gänseblümchens.
Ich will nicht.