Geschrieben von Luca am 14.08.2007 um 18:19:
Und dann...? | Gedanken über das Leben und den Tod
Schon etwas älter, dennoch eine meiner Lieblingsgeschichten. Ich persönlich mag sie sehr gerne

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Freue mich daher über eure Bewertungen.
Und dann...?
Im Grunde war es einfach, das wusste er. Schließlich brauchte er nur die Tür öffnen und den Raum mit einer sorglosen Miene betreten. Ein Blick in den Rückspiegel seines Autos zeigte ihm einen sportlich attraktiven Mann, Mitte zwanzig, der sein Haar gescheitelt und elegant trug, sich seines Aussehens bewusst war und aus diesem Wissen auch keinen Hehl machte. Arrogant war vielleicht ein Wort dafür. Die Augen erzählten aber etwas anderes. Die Augen, die nicht nur für Dichter und Philosophen die Wiederspiegelung der Seele waren. Sie zeigten eine Trauer, eine tiefsitzende Angst und die Sorge um so viele verschenkte und verletzende Tage. Den bitteren Schmerz einer so tief verwundeten Seele, dass es nicht mehr der Augen bedarf, um dies zu sehen. Er versuchte ein Lächeln und scheiterte kläglich. Zynisch dachte er an die tröstenden Worte der Menschen die Glück gar nicht zu definieren wussten und sich das eigene nur vorgaukelten, um nicht selbst einmal bemitleidet werden zu müssen. Ein Haufen ungewollter Lügner, die, ohne offen zu sein, glaubten herzlich zu sein und sich dabei der Oberflächlichkeit des Seins hingaben. Menschlich? All zu menschlich, nahm er an. Sie würden ihm ihr ganzes Mitleid aussprechen, während sie sich in Gedanken der Bestättigungen erfreuten, es eh gewusst zu haben. Sich hinter Lästereien und Beleidigungen verstecken, um nicht selbst verletzlich zu werden. Dabei war es jeder Mensch: verletzlich. Auch er. Aber aus einem viel bedeutenderen Grund als sie glaubten. Als sie sich auch nur vorstellen konnten. Alles war lächerlich dagegen.
Zur selben Zeit, ein anderer Ort.
Stumme Tränen rannen ihre Wange hinab, als Zeugen des unendlichen Schmerzes ihrer Seele. Die Beine an sich herangezogen klammerte sie die Arme darum, wie ein Versuch zu halten, was nicht zu halten war. Er war gegangen. Und ein Teil von ihr gleich mit. Eine Zeit, die sie nie wieder zurück bekommen würde, aber die für immer bei ihr sein würde. Sie konnte nicht definieren, ob sie um die Vergangenheit, oder um die Zukunft weinte. Oder um ihn. Um ihn, den sie hasste und so sehr liebte.
Paradox? Vielleicht. Sie schob den Kopf in den Nacken um an die Decke sehen zu können, als wenn sie nach vorne schauen wollte. Und sie sah ihn. Nur ihn. Tröstlich war, dass auch er sie geliebt hatte, wie noch nie jemand vor ihm. Fünf Jahre hatte er ihr seine Liebe geschenkt und ihr gehört. Es war auf beider Seiten so gewesen. Und sie wusste nicht einmal, wie es geendet hatte. WANN es geendet hatte. Waren sie eigentlich schon am Ende? War es nicht gelogen, zu sagen, dass sie ihn nicht mehr liebte? Konnte man denn überhaupt jemanden nicht mehr lieben, dem man fünf Jahre mit Leib und Seele verfallen war? Sie wusste, dass ein Teil von ihr ihn immer lieben würde. Und selbst wenn dieser Teil, und das musste sie sich nun eingestehen, die Vergangenheit war.
Der Wind sauste durch sein Haar. Er dachte nicht an sie. Er dachte mit ihr. Er vermisste sie so schmerzlich, ihre Haare, ihre Haut, ihre Lippen, ihre Liebe, ihre Augen... Die Augen ganz besonders. Er wusste, selbst wenn er die Chance hätte, würde er nie wieder jemand anderes so lieben wie sie. Und das war wohl die Ironie des Schicksals. Zynisch dachte er an die Menschen, die ihm bei dem Geschäfts- und Familientreffen auf die Schulter geklopft und bekundet hatten, zu wissen, schon damals, dass das nichts hätte werden können. Nichts werden? Waren fünf Jahre denn gar nichts? Wer von diesen unglücklichen Menschen konnte schon behaupten, fünf Jahre jemand anderes so geliebt zu haben, wie er sie. Und sie ihn. Er fragte sich, wie viele von den verheirateten Männern an diesem Ort wohl nach 2 Jahren Ehe noch glücklich gewesen waren. Überhaupt irgendwer? War denn aus denen etwas geworden? Dann dachte er an ihre Worte, die Sarkasmus sprudeln ließen, und lächelte. "Was soll man schon auf die Meinung Anderer geben? Sie glauben, wenn das Geld ihnen aus dem Hintern fällt, sind sie glücklich. Oh ja, man sieht ihnen ihr Glück förmlich an!" Sie hatte sich nie aus dem Milieu etwas gemacht, aus dem er kam. Die neuen Wagen, die er regelmäßig von seiner Firma gestellt bekam, hatte sie nie wahr genommen. Ja sie hatte sich beim Thema Geld schon fast lustig über ihn gemacht. War das Geld Schuld an ihrer Trennung gewesen? Gequält lächelnd trat er die Zigarette aus, von denen er wusste, dass sie ihn eines Tages in den Tod treiben würden und die er dafür hasste. Zu Ändern war eh nichts mehr. Und im Moment wollte er nur eines: sie sehen!
Sie überlegte, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. War es zwei oder drei Monate her? Sie wusste, dass er an der Tür war. Sie konnte nicht sagen woher, aber sie wusste es. Zuvor hatte sie sich noch auf der Toilette übergeben. Manche nannten es die Ess-Brech-Sucht, andere Bulimie und sie Liebeskummer. Sie wusste, dass es nicht nur das war, aber es war einfacher zu ertragen, wenn sie sich etwas vormachte. Bevor sie öffnete, sah sie sich noch einmal im Spiegel an. Körperlich mochte sie fit und schlank sein wie noch nie, aber seelisch war sie so zerstört und kaputt, dass sie nicht mehr weiter denken mochte. Und das würde er, der sie so gut kannte wie niemand sonst, sofort merken. Dadurch wurde sie verletzlich. Dadurch wurde sie unsicher. Dadurch wurde sie noch sterblicher.
Groß und gut aussehend wie seit je her stand er vor ihr, aber auch ihm sah sie an, dass er am Ende war. Sie kannte ihn zu gut, als dass sie nicht erahnt hätte, dass an seinem seelischen Zerbrechen nicht nur die Trennung Schuld war. Das Funkeln seiner Augen verriet ihn. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen, aber die Regeln der Trennung verbaten es ihr. Sie versteckte sich hinter einer Unnahbarkeit. "Was willst du?" Ihre Stimme klang hart und barsch.
"Dich sehen!" Sofort war sie milder gestimmt. Sie bat ihn einzutreten und spürte, wie ihre Seele hoffte, den zweiten Teil zurück zu gewinnen. "Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist!" Es klang aufrichtig. Er ließ sich auf das Sofa in ihrem Zimmer fallen, ihre Eltern waren nicht da. "Ich auch nicht - ich weiss gar nicht mehr, was gut und böse ist!", gab er schließlich zu.
Er sah ihr an, dass sie sich wieder den Finger in den Hals steckte. Das letzte Mal hatte er sie so erlebt, da war sie 17 gewesen. Und nur 4 Monate später waren sie zusammen gekommen. Damals, in diesem Zimmer. Zu der Zeit hatten sie ganz andere Dinge hier drinnen gemacht. Und wenn er bedachte, dass sie es bis vor zwei Monaten auf der Stelle ebenso getan hätten, überkam ihn eine Welle der Sehnsucht. Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte, immer lieben würde und ohne sie nicht leben konnte. Aber was war schon leben?
"Wie ist es dazu gekommen?" brachte er stattdessen nur lasch über die Lippen. Sie sah auf und ihre Augen funkelten vor Zorn.
"Das fragst du mich? Ich habe dir einfach nichts mehr bedeutet. Und das weißt du auch!" Sein Herz rebellierte. Es bäumte sich voller Schmerz auf und wollte ihr das Gegenteil zu schreien. Sie packen und schüttel, sie zur Vernunft bringen. Denn es liebte sie immer noch so abgöttisch, wie vor fünf Jahren bei der ersten zärtlichen Begegnung. Aber er war außer Stande es ihr zu sagen. Aus Angst, von der Person verletzt zu werden, die ihm am meisten bedeutete. Und über diese Furcht hinaus bemerkte er nicht, dass das Schweigen der schlimmste Schmerz von allen war.
Die Stille eroberte den Raum und regierte einige Minuten. Dann bemerkte er voller Entsetzen, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten.
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Er saß in seinem Auto und starrte auf ihre Haustür. Er war kaum 5 Minuten gegangen und schon vermisste er sie. So war es immer gewesen. Wie hatte er es die letzten Monate ausgehalten? Und eine jähe Angst überkam ihn, wie vor einem Monat es das erste Mal der Fall gewesen war. Ohne sie konnte er diese Zeit ganz einfach nicht überstehen! Wütend über sich selbst und diese Ungerechtigkeit, stieg er aus dem Auto und schlug die Tür hinter sich gewaltsam zu. Am Haus wieder angekommen, klingelte er Sturm.
Sie wirkte nicht überrascht, ihn zu sehen, aber dennoch fragend. Was wollte er? Sie bat ihn nicht einzutreten, er tat es einfach. "So kann das alles einfach nicht enden!", meinte er entschieden und nahm zum zweiten Mal an diesem Abend auf dem Sofa Platz. Sie presste die Fäuste an die Schläfen. "Wie soll es dann enden?", fragte sie schlicht und nahm ihm gegenüber Platz, um ihm ganz genau in die Augen blicken zu können.
"Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht! Was ist aus uns geworden? Wir können nicht einmal mehr miteinander reden!" Er ließ seine Fassungslosigkeit mitschwingen.
"Es funktioniert einfach nicht..." Wütend sprang er auf und ließ sie so verstummen. Er war es Leid sich so etwas anzuhören. "Sag nicht so was!", fauchte er zornig, "Als wenn du nicht wüsstest, dass das alles doch gar nicht wahr ist!"
Sie stand ebenfalls auf. Ihre Augen schimmerten verschwommen. Und sie schrie: "Red nicht so mit mir! Du hast kein Recht dazu! Du - hast - kein - Recht - dazu! Du am allerwenigsten!" Es tat ihm Leid und er wollte sich entschuldigen, aber sie hatte sich abgewandt. So gerne wollte er sie umarmen, aber aus Angst vor der Zurückweisung, ließ er es bleiben. Stattdessen sank er sich seufzend wieder auf seinen Platz.
"Unsere Trennung ist wie ein Tod!", bemerkt er. "Nicht rückgängig zu machen." Stumm hörte sie ihm zu, gleichzeitg aber rannen Tränen ihre Wange hinunter und sie zwang sich, weiterhin mit leerem Blick auf die Wand zu starren. "Und der Tod ist etwas Erschreckendes. Stell ihn dir vor. Was erwartet uns, was wird kommen? Kommt irgendwas? Oder verfaulen wir nur unter der Erde?" Sie spürte eine jähe Angst vor dem Tod in sich aufflammen. Angst vor dem Unvermeidlichen. Pure Angst. Sie drehte sich zu ihm und setzte sich wieder. "Wieso sollte man sich darum Gedanken machen?", fragte sie in einem Ton, der das Zittern ihrer Stimme eigentlich nicht hörbar machen sollte. Aber er verdeutlichte es nur.
"Warum Gedanken machen?" Auch seine Stimme bebte. "Weil er unumgänglich ist. Gegenwärtig. Nichts ist so bestimmt wie der Tod, oder? Wir machen den Fehler, ihn von uns weg zu schieben, uns nicht damit auseinander zu setzen. Was macht uns eigentlich Angst? Die Ungewissheit, was kommt, oder die Gewissheit, das er kommt?"
Sie sah ihm in die Augen.
"Die Gewissheit, die geliebten Menschen nie wieder zu sehen? Ihm machtlos ausgeliefert zu sein? Die Frühlingsdüfte nie wieder wahrnehmen zu dürfen? Für immer von dieser Welt gehen zu müssen?" Tränen flossen über seine Wangen und sie hatte ihn noch nie so zerbrechlich gesehen. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, ihn geküsst und ihm Halt geboten. Aber stattdessen blickte sie ihn nur an und spürte ihre eigenen Tränen auf ihren Wangen hinunter gleiten.
"Glaubst du an ein Jenseits?" Ihre Stimme war brüchig und flüsternd.
"Ich weiß nicht, woran ich glauben soll. Das Jenseits macht einem vieles einfacher, einfacher damit klar zu kommen. Aber ich glaube an den Tod. Und mit ihm an seine herbei geführte Endlichkeit. Und gleichzeitig an seine Unendlichkeit. Ein lustiger paradox, nicht wahr?" Doch keiner lachte. Er fuhr einfach fort. "Wir alle werden sterben. Auch du und ich! Vielleicht ist gerade das das Schlimme an ihm: Man kann ihm nicht entkommen. Auch nicht, wenn man versucht, nicht an ihn zu denken. Es ist nicht die Frage warum wir an ihn denken müssen. Wir müssen es einfach tun! Er ist da, er ist überall. Ich habe Angst vor dem Tod! Ich habe sie! Und wenn du mich fragst, wieso, dann werde ich dir sagen, wegen beidem: Wegen der Ungewissheit und seiner Endlichkeit!" Er ließ die Worte in den Raum stehen und wirken, seinen Tränen laufen, um die ihrigen anzuschauen. Dann, ganz plötzlich und leicht dahin, sagte er: "Ich liebe dich immer noch!"
Jäh sprang sie auf und sah ihn unter Tränen fest in die Augen. Aus Angst die Kontrolle über sich zu verlieren, flehte sie ihn beinahe an: "Es ist besser, wenn du jetzt gehst!" Und ihr Herz zerbrach dabei.
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Er griff nach seiner Jacke und rief seinen Eltern zum Abschied etwas zu. Er wusste nicht, ob und wann er die Beiden wiedersehen würde, aber für heute war es zuviel gewesen. Er war zum Essen gekommen und hatte mit ihnen reden wollen, vernünftig. Aber sie hatten es gar nicht zugelassen, ihn auf seine Fehler hingewiesen, auf die Dummheit mit ihr fünf Jahre zusammen gewesen zu sein. Durch ihr Schweigen und ihre Vorwürfe hatten sie ihn verletzt. Seine Mutter hatte ihn am Ende darauf hingewiesen, dass er 26 war. Mein Gott, er hätte ja noch sein ganzes Leben vor sich!
Er musste über diese zynischen Worte lachen, die ohne ihres Wissens und Willens zynischen geworden waren. Er ließ die Worte an sich vorüberziehen. Später würden sie ihnen Leid tun, aber das sollte ihm dann auch egal sein. Dann mussten sie damit fertig werden. Nachdenklich schloss er hinter sich die Haustür und dachte an sie, die er das letzte Mal vor ein paar Tagen gesehen hatte. Zielstrebig schritt er auf sein Auto zu.
Dann erst erblickte er sie.
Zärtlich fuhr er ihr mit den Fingerkuppen über ihre nackte Haut, von der Hüfte zur Brust hinauf. Ihre Nähe ließ sein Herz eine Wärme ausstrahlen, die seinen ganzen Körper ergriff und all sein Leid vergessen ließ. Für eine Weile beherrschte ihn absolutes Glück und er dachte nur an sie. Sie genoss ihrerseits seine kräftigen Hände auf ihrer Haut und war froh, dass sie den Mut hatte sammeln können um ihn zu besuchen. Die Wendung der Ereignisse überraschte sie dennoch ein wenig, aber sie war glücklich darüber. Sie hatte ihn die letzten Monate so vermisst, sogar ihr Körper. Sie überlegte wieder, wie es zu der Trennung gekommen war, obwohl sie sich so liebten. Vorsichtig schmiegte sie sich etwas näher an ihn und gab sich der Erregung hin, die sie leicht erfasste, als er weiterhin über ihre Haut mit seinen Händen fuhr. Sie brauchte ihn einfach.
Aber auch wenn das Glück, sie zurück zu haben, weiterhin überwiegte, flogen seine Gedanken schon wieder fort. Schmerz erfüllte ihn, als er daran dachte, sie sobald schon wieder zu verlieren. Er überlegte, wie er ihr sagen sollte, dass er sterben würde. Wie er ihr sagen sollte, dass er ohne sie diese Zeit nicht überstehen wird. Und wie er ihr sagen sollte, dass sie ihn all zu bald wieder verlieren würde. Aber er wusste auch, dass er es ihr heute nicht mehr sagen würde. Vielleicht morgen?
Dabei bemerkte er gar nicht, dass sie es schon lange wusste. Schon seit er vom Tod geredet hatte, wusste sie, dass er für immer fortgehen würde. Und dieser unendliche Schmerz über den wahrscheinlich baldigen Verlust ihres Seelenverwandten machte sie fast ohnmächtig. Wie sollte sie den Rest ihres Lebens ohne ihn verbringen, wenn sie es nicht mal 2 Monate konnte? Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie ihn bis zum Tod begleiten und lieben würde. Sie erhob sich leicht, um ihm - wie zum Trost - einen Kuss zu geben. Und er spürte die Tränen auf seiner Wange - doch es waren nicht seine.
Copyright by Charlotte H.