@Phily: Danke, besser ich gleich mal aus
Aller Anfang ist schwer
Kapitel 5
Der Fahrtwind verwehte meine Haare.
Ich war gerade auf dem Weg nach Gut Mahltrup, aber das Wetter sah nicht gerade rosig aus. „Typisch tirolerisch.“, grummelte ich vor mich hin. Tatsächlich schien es hier mehr zu regnen als anderswo. Hier hatte auch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung einen Cabrio – exakt so viel, wie es verrückte Leute gab, nahm ich einfach mal an.
Angesichts des Klimas war auch eher ein Traktor mit Winterreifen zu empfehlen als ein Sportwagen, dachte ich voller Ironie. Entweder man versank knietief im Matsch, oder man schlitterte mit dem Auto auf einer gefrorenen Fahrbahn durch die Gegend. Obwohl, im Moment war eigentlich Frühling, und endlich war die Schneegrenze auf 1 500m hinaufgestiegen. Auf manchen Bergen war dennoch ein weißer Fleck zu entdecken.
Diesmal hatte ich einen asphaltierten Fahrradweg gefunden, auf dem ich ohne Probleme zum Stall gelangen konnte. Marilyn war auch zu Hause geblieben.
Zum Glück, fügte ich in Gedanken hinzu. In letzter Zeit ging mir meine Familie gewaltig auf die Nerven.
Mit einer Vollbremsung kam ich kurz vor dem Fahrradständer des Gutes zu stehen. In der Anwesenheit meiner Mutter hatte ich das Metallgestell bei unserem letzten Besuch doch glatt übersehen. Diesmal machte ich den Fehler jedoch nicht.
Ich betrat selbstsicher das große Anwesen. Schließlich wartete Panja auf mich. Ich freute mich schon riesig auf die Stute.
Etwas zweifelnd sah ich an mir hinunter. Ich war schon lange in keinem Stall mehr gewesen, sodass ich nicht genau wusste, ob eine zerschlissene Jeans und ein halb verwaschenes T-Shirt geeignete Mode war, oder nicht.
In Gedanken versunken ging ich durch die Stallgasse. Ich beobachtete interessiert meine Schuhspitzen, als ob sie sehr interessant wären, und hatte meine Sinnesorgane sonst wo, denn plötzlich stieß ich gegen etwas. Nein, gegen jemanden. Erschrocken machte ich einen Satz rückwärts, aber ein hartes Stück Metall war im Weg. Krachend fiel die Heugabel zu Boden.
„Mist!“, schimpfte ich auf tirolerisch. Diesen Ausdruck hatte ich mir mittlerweile angeeignet, bemerkte ich sarkastisch.
„Hey, nur die Ruhe.“, meinte eine sanfte Stimme. Als ich aufsah, bemerkte ich einen braunhaarigen Jungen, der mich prüfend ansah. „Alles okay?“
Ich nickte hastig und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich war nur etwas in Gedanken.“, entschuldigte ich mich schließlich mit einem zaghaften Lächeln, nachdem einige Zeit vergangen war. Der Junge nickte verständnisvoll.
„Da wir uns schon begegnet sind, kann ich mich schon mal vorstellen. Mein Name ist Lukas, aber die Meisten hier nennen mich einfach Lu.“
Mir kam der Gedanke, dass heute entweder ein Glückstag war, oder ich mich sehr tollpatschig benahm. Zuerst das mit dem Schlüssel, dann das hier... Aber mir war nicht gerade zum Lachen zumute, daher sagte ich einfach: „Sam. Nett, dich kennen zu lernen, Lukas.“ Ich verwendete absichtlich seinen ganzen Namen, und mit einem reservierten Lächeln ging ich an ihm vorbei.
Ich konnte förmlich seine Fragen im Rücken spüren. Ich seufzte. Wieso musste ich immer so mies gelaunt sein? Lu war wirklich nett gewesen. Zu meiner ohnehin schon schlechten Laune, die plötzlich über mich gekommen war, kam Wut auf mich selber.
Anscheinend war ich komplett unfähig, mit einem Vertreter des männlichen Geschlechtes umzugehen.
Ich dachte schon, der Tag wäre komplett im Eimer, aber in dem Augenblick erreichte ich endlich Panja. Die Stute mampfte gerade etwas Heu und würdigte mich keines Blickes, als ich vor ihrer Box stehen blieb.
Trotzdem empfand ich die Nähe des Pferdes als tröstlich. Ich nahm ihr Halfter von der Boxenwand und betrat den Lebensraum der Stute. „Na, Süße, viel Platz hast du hier ja nicht, wenn man bedenkt, dass du hier manchmal deinen ganzen Tag verbringst!“ Fast bekam ich Mitleid mit ihr. Ich hatte ein ganzes Einfamilienhaus für mich, aber sie? Ein paar Quadratmeter. Für alles – Schlafen, Essen, und auch quasi als Klo.
Als ich näher trat, um Panja das Halfter anzulegen (ich wusste zum Glück noch, wie das ging), legte sie böse die Ohren an. Obwohl ich schon lange kein Pferd mehr gesehen hatte, geschweige denn ein schlecht Gelauntes, so spürte ich doch instinktiv, dass dies eine abweisende Geste war. Ich blieb etwas verunsichert stehen.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Ich drehte mich um und war nicht erstaunt, Lu zu erblicken. Der Junge sah mir mit undurchdringlicher Miene zu, wie ich hilflos in der Box stand.
Der Gedanke, dass er mein erstes Versagen sehen würde, machte mich wütend. Und die Wut machte mir Mut und verlieh mir Kraft.
Ich ging selbstsicher zu Panja, schnalzte mit der Zunge und holte mir gleichzeitig ihren Kopf. Aber das wäre nicht nötig gewesen – die Stute hatte begriffen, dass ich nicht locker lassen würde. Ihr Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. Ihre Augen waren groß und blickten mich feindselig an. Ich schaute ebenso verbittert zurück. „Mach keinen Blödsinn, komm her!“, redete ich ihr beruhigend zu. Stattdessen schnappte Panja aber nach mir. Ich sprang geschickt zur Seite, ging aber sofort in den Gegenangriff über. Bevor Panja merkte, was passierte, hatte ich das untere Teil des Halfters über ihr offenes Maul bis zu ihrem Nasenrücken hinaufgeschoben.
Leider reagierte Panja schnell und warf den Kopf so weit nach oben, dass ich den Rest des Halfters unmöglich über ihre Ohren bekam. Während ich noch überlegte, was jetzt zu tun war, hörte ich Lu’s Stimme: „Kann ich helfen?“
„Nein, das schaff’ ich schon!“, meinte ich etwas zu leise und etwas zu aggressiv. Plötzlich fiel mir auf, dass Panja und ich gar nicht so verschieden waren. Das belustigte mich, und mit neuer Energie ging ich an die schwierige Aufgabe, Panja komplett aufzuhalftern. Erstaunlicher Weise hatte ich einen Geistesblitz: ein Leckerli! Schnell wühlte ich in meinen Hosentaschen nach etwas Brauchbaren. Tatsächlich fand ich ein Stück getrocknetes Brot, wahrscheinlich noch meine gestrige Jause. Fröhlich beförderte ich das Teil an die Oberfläche. Allzu viel hatte ich in all den pferdelosen Jahren wohl doch nicht verlernt.
„Na, Panja, Hunger?“, fragte ich die Stute. Diese ließ sich das Angebot nicht zweimal machen und fraß gierig das dargebotene Essen. So hatte ich Zeit, endlich das Halfter über ihre Ohren zu schleifen. „Brav!“, lobte ich sie, als ich das Halfter unter ihren Ganaschen schloss.
Ich war sehr stolz auf mich. Ich hatte es geschafft! Frohlockend griff ich mir einen Strick und hakte ihn in das Halfter ein. Bevor ich aber die Box verlassen konnte, hörte ich stimmen. Ich erkannte Monika und Lu. Schweigend blieb ich hinter der Boxenwand versteckt stehen.
„Und, kommt sie zurecht?“, fragte Monika gerade. „Oh ja, sie hat es toll hinbekommen. Für das erste Mal... Und sie hatte wirklich lange Zeit nicht mehr mit Pferden zu tun?“ Ich hörte aus dem Tonfall des Jungen heraus, dass er diese Möglichkeit ziemlich absurd fand. „Ja, hat sie mir gesagt.“ Monika schien nachzudenken. „Tja, dann muss sie wirklich einen guten Draht zu Pferden haben!“, hörte ich Lu sagen.
Sogar in meinem Versteck spürte ich, wie meine Wangen zu brennen begannen. Er hatte mich gelobt! Es war mir gelungen, ihn zu beeindrucken. Mein Selbstbewusstsein wuchs mit jeder Sekunde. Und mein Stolz mit ihm.
„Aber ein bisschen kratzbürstig ist sie.“ Von Weitem konnte ich sagen, dass Lu grinste, während er das sagte. Anscheinend meinte er es nicht ganz böse. Die zwei Personen schienen sich jetzt zu entfernen, denn ich konnte Monikas Antwort nicht hören.
Heftig atmend lehnte ich mich gegen die Gitterstäbe der Box.
„Hast du das gehört, Panja?“
Aber das war erst die erste Probe gewesen, die ich bestanden hatte. Panja war bei Weitem nicht fertig mit ihren Einfällen. Als ich sie in der Stallgasse anband, scharrte sie unablässig mit den Vorderhufen und trippelte hin und her.
Das tat sie gewiss nicht, weil sie nervös war. Ich konnte ihr an den Augen ablesen, dass sie einfach nur zickig war und Beschäftigung suchte. Deshalb beunruhigte mich ihr Verhalten keineswegs. Ich hatte schon genug mit dummen Tussis zu tun gehabt, um ihr Verhalten komplett ignorieren zu können.
Ich machte mich also auf die Suche nach der Sattelkammer. Wo war sie doch gleich gewesen? „Ach, da muss sie sein...“, murmelte ich gedankenverloren. Tatsächlich fand ich lauter Sättel, als ich eine Tür zu meiner Linken aufstieß. Auf einer der verstaubten Putzkisten stand in einer schlecht lesbaren Schrift: „Panja“.
„Here we go...“ Mir fiel gar nicht auf, dass ich wieder auf Englisch dachte und sogar vor mich hin murmelte. Stattdessen griff ich mir die Box und kehrte zu Panja zurück.
„Na Mausi, jetzt wirst du schön sauber!“, sprach ich ihr gut zu. Ich kannte bereits jetzt schon einige Spitznamen, die zu ihr passten. Einige waren englisch.
Ich begann leise ein Lied zu summen, das mir einfach so in den Sinn kam. Mir fiel ein, dass ich früher in einem Chor gesungen hatte. Meine Stimme war also etwas geübter als die von Durchschnittspersonen. Ich war keine Britney Spears, zugegeben, aber für meine privaten Bedürfnisse, sprich zum Duschen, reichte es mir völlig, ein paar Melodien summen und einige Hilary Duff Lieder trällern zu können.
Auch Panja schien zufrieden mit meinem Gesang, sie kam mir zumindest ein bisschen weniger genervt vor. Immer noch trippelte sie von links nach rechts und von rechts nach links, aber damit konnte ich leben.
Unablässig strich ich mit der weichen Kardätsche über ihr Fell. Ich hatte das Putzen anscheinend nicht allzu sehr verlernt. Obwohl, was war denn so schwierig daran? Man durfte nur nicht mit einer zu harten Bürste die Beine bearbeiten, das war nämlich sicherlich unangenehm für das Pferd. Ansonsten fiel mir keine konkrete Richtlinie ein, nach der man ein Pferd zu putzen hatte.
Ich ließ mir Zeit, denn es war erst fünf Uhr. Ich konnte noch mindestens drei Stunden im Stall bleiben, und zwar ohne dass Marilyn irgendetwas mitbekam. Und Lizzie beschäftigte sich sicher selber, ich war ja nicht ihre Nanny. Sie konnte auch mal einen Nachmittag alleine zu Hause verbringen. Im Notfall wusste sie ja, wo ich war. Und ein Handy hatte ich auch.
Unbewusst strich ich über meine Hosentasche. Der Jeansstoff wölbte sich über ein kleines, klappbares Motorola-Handy. Es war kein neues Modell, aber wozu sollte ich auch ein aktuelles Handy kaufen, das alles konnte? Ich hatte einen CD-Player zu Hause, und ein Radio stand ebenfalls bereit. Wenn ich Musik hören wollte, griff ich also auf diese zwei Geräte zurück. Und wenn ich Fotos schießen wollte, hatte ich eine mittelmäßige digitale Kamera. Wozu diese zwei Eigenschaften noch in ein armes, kleines, unschuldiges Handy quetschen?
Meiner Meinung nach waren Handys sowieso nur Ausdruck von Armut oder Reichtum; es war ein Indikator für reiche Personen, die meistens in waren, je nach Marke des Handys behandelt wurden. Ich hatte so ein Statussymbol nicht notwendig. Ich war ich, und wem es nicht passte, konnte auf die andere Seite der Welt flüchten, das war mir dann auch egal.
Während meine Gedanken so ihren Lauf genommen hatten, wie es mir oft passierte, war mir der Stoff an Summ-Liedern ausgegangen. Ich verstummte also notgedrungen. Auf ihre Weise zeigte Panja mir, dass ich gefälligst weiter reden sollte. Nervös schnaubend verstärkte sie ihre Aussage.
„Ja, ist ja gut...“, murmelte ich und suchte verzweifelt nach einem Lied, dass ich ihr noch vorsingen konnte. Ich versuchte es mit „Advertising Space“ von Robbie Williams. Zufrieden hörte Panja wieder auf, mit ihren Hufen zu scharren, und wurde wieder ruhiger. Innerlich grinsend beobachtete ich sie.
Und da soll jemand behaupten, das wären ‚nur’ Tiere, dachte ich kopfschüttelnd. Sie denken vielleicht nicht so hochgestochen wie wir, aber immerhin machen sie sich Gedanken. Sie sind musikalisch, und dass sie keine Finger haben, um Klarinette oder Harfe zu spielen, dafür können sie nun wirklich nichts. Sie haben genauso Gefühle, und sie sind treu. Sie ertragen unser Geplärre, geben uns Kraft, unterstützen uns, wo es nur geht. Sie sind nicht so falsch wie viele Menschen. Sie verstellen sich nicht. Und, vor allem, sie beurteilen einander nicht anhand von Rasse oder Fellfarbe.
Ich war an dem Punkt angelangt, wo ich beim besten Willen nicht mehr weiterputze konnte. Panja glänzte wie wohl seit Langem nicht mehr. Falls sie tatsächlich so lange nicht mehr gepflegt wurde, wie ihre Box schon verstaubt war, dann wunderte es mich nicht, dass sie so unwillig war.
Die Arme musste sich ja total nutzlos vorkommen. Beinahe hatte ich Mitleid mit der Stute. Ich war selber erstaunt, wie sehr ich mich in letzter Zeit in Pferde hineinversetzen konnte...