Heeschen
Beim 'Feel So Bad'-Hören und 'Aus-Dem-Fenster-Stieren' ist mir was neues eingefallen und ich hab's gleich zu Papier (bzw. PC) gebracht. Wäre nett, wenn ihr den Anfang bewerten würdet
Wenn's euch gefällt, schreibe ich weiter.
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Freitag, 12.08.2005
Was ich an meiner Mutter liebe. – Das war das Thema eines Aufsatzes, den ich in der sechsten Klasse schreiben musste. Meine Klassenkameraden hatten alle seitenlange Texte. Es ging vom Verständnis, bis zum Helfen bei den Hausaufgaben.
Ich selber saß damals Minuten vor einem leeren Blatt, weil es schwer war, meine Gedanken in Worte zu fassen. Ich war meiner Mutter für vieles dankbar. Sie hatte immer ein offenes Ohr für mich, auch wenn sie selber genug Probleme hatte. Aber ich konnte nicht das schreiben, was meine Klassenkameraden aufs Papier brachten. Meine Mutter hatte mir nie bei den Hausaufgaben geholfen und mich nie in Klamottendingen beraten, wie die Mütter der anderen Mädchen.
Trotzdem liebte ich meine Mutter mehr als einen anderen Menschen. Umso schlimmer war es für mich, dass ich nicht immer bei ihr sein konnte. Ich weiß nicht, wie ihr selbstgekochtes Essen schmeckt, denn für mich hat sie noch nie gekocht. Wahrscheinlich war es nur gerecht, dass sie zwei Wochen nachdem wir den Aufsatz geschrieben haben, gehen durfte. Sie hat sich gequält, dass habe ich gemerkt – auch, wenn ich erst elf Jahre alt war. Das meine Mutter Krebs hatte, wusste ich schon lange. Ich wusste auch, dass ich irgendwann loslassen müsste. Ich war jung, aber ich wusste das. Meine Oma hat oft gesagt, ich wäre mental schon sehr weit für mein Alter. Damals habe ich die Bedeutung dieser Worte nicht begriffen. Ich wusste nicht, wieso sie das auf der Beerdigung meiner Mutter gesagt hat. Viele Leute haben damals eine Rede gehalten.
Meine Mutter war eine berühmte Frau. Sie war Schriftstellerin und hat gegen Krankheiten wie Krebs und AIDS gekämpft. Sie hatte viele Bewunderer und auf ihrer Beerdigung waren Menschen, die ich gar nicht gekannt hatte.
Diese Menschen hielten alle ihre Reden. Oft kam ich darin vor. Sie erzählten, wie meine Mutter sich immer um mich gekümmert hatte – damals, als ich noch ein Baby war und die Krebs-Diagnose noch weit entfernt war. Ich habe gleich in der ersten Reihe gesessen und immer nur auf die Leute gestarrt, die vorne standen. Die Menschen um mich herum weinten die ganze Zeit. Ich habe keine Träne vergossen.
Ich wollte nicht weinen. Die ganze Zeit nicht. Als meine Großmutter mit tränennassen Gesicht zu mir ins Zimmer kam und mir sagte, dass meine Mutter gestorben sei, habe ich mich nur stumm an sie geschmiegt. Sie hat gezittert und die ganze Zeit geweint. Ich habe nicht einmal geschluchzt. Keinen Ton habe ich von mir gegeben – nie wieder.
Als wir die Aufsätze abgeben sollten, stand auf meinem Blatt nur ein Satz: Ich liebe meine Mutter, weil sie mich ohne Worte versteht.
Die Lehrerin hat mich nur ganz komisch angeguckt. Jeder in der Schule kannte mich, weil meiner Mutter so bekannt war und jeder wusste, dass sie krank war. Natürlich wusste auch meine Lehrerin um das Schicksal der armen, kleinen Evelyn Thomson, die bei ihr in Englisch in der zweiten Reihe saß.
Sie hat mir eine Eins gegeben. Hätte ich nicht allen so leid getan, dann wären wohl Sprüche à la ‚Lieblingsschülerin’ gekommen, aber so kam nichts. Ich will aber keine guten Noten, weil jemand Mitleid mit mir hat. Wenn das so wäre, dann würde ich ständig in Tränen ausbrechen und Schreikrämpfe bekommen. Nein – ich sage kein Wort mehr. Als ich nach zwei Wochen immer noch nichts sagen wollte, hat der Direktor meiner Schule vorgeschlagen, mich auf eine andere Schule zu schicken. Eine, die sich auf stumme Kinder meines Alters spezialisiert hat.
Mir wäre es egal gewesen, aber meine Großeltern haben für mich gekämpft. Schließlich haben sie es geschafft. Ich durfte die ‚normale’ Schule besuchen.
Der Todestag meiner Mutter jährt sich in zwei Tagen zum vierten Mal. Seit ich auf die Lincoln-Highschool gekommen bin, hat sich das Verhalten meiner Klassenkameraden verändert. Nicht selten finden sich in den Lüftungsschlitzen meines Spints Zettelchen mit fiesen Sprüchen. Mir ist es egal, was meine Mitschüler darüber denken, dass ich schweige. Es tut längst nicht mehr weh. Natürlich habe ich auch Freunde an meiner Schule. Es gibt einige, die es nicht stört, dass sie mit mir nicht telefonieren können. Von ihnen kennt jedoch nur eine meine Stimme: Meine beste Freundin Ann. Ich kenne sie, seit ich denken kann. Sie hat mich durch die schlimmsten Zeiten meines Lebens begleitet. Bei ihr fiel es mir am schwersten zu schweigen, vor allem, weil sie mich nie dazu gedrängt hat. Meine Großeltern haben mich gleich zu irgendwelchen Diplompsychologen geschickt. Inzwischen scheinen selbst sie begriffen zu haben, dass ich dadurch nicht reden werde. Ich weiß aber, dass sie es sich insgeheim noch immer wünschen. Ich habe gehört, wie sie darüber redeten, wenn sie mich gerade nicht in ihrer Nähe vermutet haben.
Seit meine Mutter tot ist, lebe ich bei ihnen, weil ich sonst keine Verwandten habe, die hier in der Nähe wohnen.
Gerade eben ist meine Großmutter gekommen und hat mir dieses Tagebuch gegeben. Sie hat dabei gelächelt und gesagt: „Damit du deine Gedanken jemandem anvertrauen kannst, ohne reden zu müssen.“
Weil ich weiß, dass sie es gut meint, schreibe ich auch rein.
Dabei habe ich meiner Mutter in meinen Träumen alle meine Gedanken anvertraut. Sie hat mich immer verstanden. Auch, wenn ich nichts gesagt habe ...

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Freitag, 12.08.2005
Was ich an meiner Mutter liebe. – Das war das Thema eines Aufsatzes, den ich in der sechsten Klasse schreiben musste. Meine Klassenkameraden hatten alle seitenlange Texte. Es ging vom Verständnis, bis zum Helfen bei den Hausaufgaben.
Ich selber saß damals Minuten vor einem leeren Blatt, weil es schwer war, meine Gedanken in Worte zu fassen. Ich war meiner Mutter für vieles dankbar. Sie hatte immer ein offenes Ohr für mich, auch wenn sie selber genug Probleme hatte. Aber ich konnte nicht das schreiben, was meine Klassenkameraden aufs Papier brachten. Meine Mutter hatte mir nie bei den Hausaufgaben geholfen und mich nie in Klamottendingen beraten, wie die Mütter der anderen Mädchen.
Trotzdem liebte ich meine Mutter mehr als einen anderen Menschen. Umso schlimmer war es für mich, dass ich nicht immer bei ihr sein konnte. Ich weiß nicht, wie ihr selbstgekochtes Essen schmeckt, denn für mich hat sie noch nie gekocht. Wahrscheinlich war es nur gerecht, dass sie zwei Wochen nachdem wir den Aufsatz geschrieben haben, gehen durfte. Sie hat sich gequält, dass habe ich gemerkt – auch, wenn ich erst elf Jahre alt war. Das meine Mutter Krebs hatte, wusste ich schon lange. Ich wusste auch, dass ich irgendwann loslassen müsste. Ich war jung, aber ich wusste das. Meine Oma hat oft gesagt, ich wäre mental schon sehr weit für mein Alter. Damals habe ich die Bedeutung dieser Worte nicht begriffen. Ich wusste nicht, wieso sie das auf der Beerdigung meiner Mutter gesagt hat. Viele Leute haben damals eine Rede gehalten.
Meine Mutter war eine berühmte Frau. Sie war Schriftstellerin und hat gegen Krankheiten wie Krebs und AIDS gekämpft. Sie hatte viele Bewunderer und auf ihrer Beerdigung waren Menschen, die ich gar nicht gekannt hatte.
Diese Menschen hielten alle ihre Reden. Oft kam ich darin vor. Sie erzählten, wie meine Mutter sich immer um mich gekümmert hatte – damals, als ich noch ein Baby war und die Krebs-Diagnose noch weit entfernt war. Ich habe gleich in der ersten Reihe gesessen und immer nur auf die Leute gestarrt, die vorne standen. Die Menschen um mich herum weinten die ganze Zeit. Ich habe keine Träne vergossen.
Ich wollte nicht weinen. Die ganze Zeit nicht. Als meine Großmutter mit tränennassen Gesicht zu mir ins Zimmer kam und mir sagte, dass meine Mutter gestorben sei, habe ich mich nur stumm an sie geschmiegt. Sie hat gezittert und die ganze Zeit geweint. Ich habe nicht einmal geschluchzt. Keinen Ton habe ich von mir gegeben – nie wieder.
Als wir die Aufsätze abgeben sollten, stand auf meinem Blatt nur ein Satz: Ich liebe meine Mutter, weil sie mich ohne Worte versteht.
Die Lehrerin hat mich nur ganz komisch angeguckt. Jeder in der Schule kannte mich, weil meiner Mutter so bekannt war und jeder wusste, dass sie krank war. Natürlich wusste auch meine Lehrerin um das Schicksal der armen, kleinen Evelyn Thomson, die bei ihr in Englisch in der zweiten Reihe saß.
Sie hat mir eine Eins gegeben. Hätte ich nicht allen so leid getan, dann wären wohl Sprüche à la ‚Lieblingsschülerin’ gekommen, aber so kam nichts. Ich will aber keine guten Noten, weil jemand Mitleid mit mir hat. Wenn das so wäre, dann würde ich ständig in Tränen ausbrechen und Schreikrämpfe bekommen. Nein – ich sage kein Wort mehr. Als ich nach zwei Wochen immer noch nichts sagen wollte, hat der Direktor meiner Schule vorgeschlagen, mich auf eine andere Schule zu schicken. Eine, die sich auf stumme Kinder meines Alters spezialisiert hat.
Mir wäre es egal gewesen, aber meine Großeltern haben für mich gekämpft. Schließlich haben sie es geschafft. Ich durfte die ‚normale’ Schule besuchen.
Der Todestag meiner Mutter jährt sich in zwei Tagen zum vierten Mal. Seit ich auf die Lincoln-Highschool gekommen bin, hat sich das Verhalten meiner Klassenkameraden verändert. Nicht selten finden sich in den Lüftungsschlitzen meines Spints Zettelchen mit fiesen Sprüchen. Mir ist es egal, was meine Mitschüler darüber denken, dass ich schweige. Es tut längst nicht mehr weh. Natürlich habe ich auch Freunde an meiner Schule. Es gibt einige, die es nicht stört, dass sie mit mir nicht telefonieren können. Von ihnen kennt jedoch nur eine meine Stimme: Meine beste Freundin Ann. Ich kenne sie, seit ich denken kann. Sie hat mich durch die schlimmsten Zeiten meines Lebens begleitet. Bei ihr fiel es mir am schwersten zu schweigen, vor allem, weil sie mich nie dazu gedrängt hat. Meine Großeltern haben mich gleich zu irgendwelchen Diplompsychologen geschickt. Inzwischen scheinen selbst sie begriffen zu haben, dass ich dadurch nicht reden werde. Ich weiß aber, dass sie es sich insgeheim noch immer wünschen. Ich habe gehört, wie sie darüber redeten, wenn sie mich gerade nicht in ihrer Nähe vermutet haben.
Seit meine Mutter tot ist, lebe ich bei ihnen, weil ich sonst keine Verwandten habe, die hier in der Nähe wohnen.
Gerade eben ist meine Großmutter gekommen und hat mir dieses Tagebuch gegeben. Sie hat dabei gelächelt und gesagt: „Damit du deine Gedanken jemandem anvertrauen kannst, ohne reden zu müssen.“
Weil ich weiß, dass sie es gut meint, schreibe ich auch rein.
Dabei habe ich meiner Mutter in meinen Träumen alle meine Gedanken anvertraut. Sie hat mich immer verstanden. Auch, wenn ich nichts gesagt habe ...