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„Du erkennst alle unsere Mitglieder in der Schule an dieser Kette. Es wird dir bestimmt ziemlich nützlich sein, da eine Menge Leute grossen Respekt vor der Sache haben, vor allem die niedrigeren Mitglieder“, erklärt Che stolz.
„Niedrigere Mitglieder? Was soll das heissen? Und auf welche Art soll es mir nützen?“, frage ich verwirrt. Wieso müssen mich die beiden immer wieder mit solchen Überraschungen konfrontieren?
„Wir haben dir ja schon gesagt, dass nicht alle gleich viel wissen. Man kann in unserer Firma nämlich aufsteigen. Jeder, der nur von dem Legalen weiss, weiss auch, dass es noch mehr gibt und wenn er fleissig arbeitet, wird er mehr erfahren. Diese haben nur einen Stern. Die vom illegalen Handel wissen, haben zwei. Die, welche mit der Sondereinheit vertraut sind, besitzen drei. Und solche wie Anuri und Amrei, die wissen, was wir dir als letztes gezeigt haben, besitzen vier dieser Sterne“, verrät Che weiter. Ich nicke einsichtig, das leuchtet ein. Aber wieso habe ich fünf?
„Und die, die fünf haben, sind – nun ja – besonders gut gestellt. Mit ihnen entwickeln wir das Neue Zeug, Planen Einsätze und all das. Kurz, es sind diejenigen, denen wir voll und ganz vertrauen und alles erzählen“, fährt Philo die Erklärung fort, „Anuri und Amrei wissen übrigens auch über alles bescheid. Mit ihnen kannst du ohne dich zu fürchten über alles sprechen. Nun ja, Anuri wirst du wohl nicht gerade viel zu Gesicht bekommen.“ Die beiden müssen meine grossen, staunenden Augen erkannt haben, denn sie beginnen beide zu lachen.
„Nun, dir vertrauen wir, Schwesterchen. Du musst wissen, du darfst niemandem davon erzählen. Auf diesem Siegel liegt ein Fluch, verrätst du es, ohne unsere Erlaubnis, wirst du auf der Stelle einschlafen, bis wir dich holen. Und ich sage dir, mit Verrätern gehen wir nicht gerade eben sanft um. Aber keine Angst, bis jetzt ist so etwas noch nicht vorgekommen. Wir wissen genau, wen wir einweihen, wer also vertrauenswürdig ist.“ Che und Philo wechseln vielsagende Blicke. Dann fährt Che fort: „Wenn dir jemand aus den unteren Stufen einen Dienst anbietet, so nimm ihn an, wenn es dir beliebt. Frag auch ruhig danach, wenn du was brauchst, es ist dein gutes Recht.“
„Was ist mit Jamin? Habt ihr es ihm erzählt“, will ich schliesslich noch wissen. Das ist es, was mir schon lange auf dem Herzen liegt. Sie haben es ihm nicht gezeigt, aber wieso?
„Nein, Schnucki, das haben wir nicht und werden es auch nicht“, seufzt Philo, „Er versteht es nicht, da bin ich sicher. Jamin ist viel zu korrekt, als dass er so etwas billigen würde, du kennst ihn doch. Und wir müssen dir nahe legen, es ihm nicht zu sagen.“
Bevor ich widersprechen kann, schneidet mir Che das Wort ab. „Ich weiss, es ist schwierig etwas vor seinem Zwilling geheim zu halten, darum sagen wir einander auch immer alles. Aber du musst es uns versprechen!“
Nach kurzem zögern verspreche ich es den beiden und verlasse das Zimmer, den Blick starr auf die Kette in meiner Hand gerichtet.
Kapitel 4, Der grosse Tag
„Laetitia, beeil dich ein wenig. Wir würden dich gerne noch sehen, bevor du verschwindest!“, ruft meine Mutter durchs ganze Haus.
Aber ich beeile mich doch schon. Ich mache, so schnell ich kann. Aber irgendwie sitzt diese Uniform heute nicht. Ich habe sie den ganzen Sommer lang immer und immer wieder anprobiert, aber niemals hatte ich solche Probleme, wie gerade jetzt. Jetzt, wo es doch so wichtig wäre.
Endlich habe ich es geschafft, dass sich das Netz mal nicht verheddert. Ich komme mir, wie jedes Mal, wenn ich das Zeug anziehe, viel erwachsener und reifer vor.
„Ich bin unterwegs. Habe ich meine Papiere unten?“, rufe ich zurück. Natürlich habe ich sie unten. Schon seit Stunden liegen sie bereit.
Um die Situation zu klären, mein Tag ist gekommen. Es ist soweit, heute trete ich meiner Zukunft entgegen. Meiner neuen Heimat, Nerea. Wie ich vielleicht schon erwähnt habe, spielt die Reise zur Schule eine wichtige Rolle. Viele sagen, dass man auf dieser Reise, wenn sie auch nicht sehr lange sein mag, seine wahren Freunde findet. Jedenfalls haben sich meine Eltern auf der Reise nach Naseem kennen gelernt und auch Che hat seinen besten Freund so getroffen, genau wie Sarah ihren festen Freund, Jude. Man solle sich aber nicht darauf verlassen, es sei nur ein Aberglaube, haben sie in einem der Briefe geschrieben, die ich bekommen habe.
Bevor ich das Zimmer verlasse, greife ich noch schnell nach dem Amulett auf dem Nachttisch, dass mir Che und Philo geschenkt haben und lege es mir um, verstecke den Anhänger in meinem Ausschnitt. Ich kann ihn nachher noch immer rausnehmen. Ches und Philos Anhänger sieht man nie zu Hause und ich will nicht, dass meine Eltern darauf aufmerksam werden.
„Da bist du ja, mein Schatz. Endlich sind alle meine Kinder da. Ich bin ja so stolz auf euch“, freut sich Mutter, als ich den Raum betrete. Die anderen sitzen schon im Wohnzimmer bereit. Alle mit ihrem Gepäck und in ihren Schuluniformen. Sarah trägt einen weiten Mantel, mit überaus grossen Ärmeln und eigentlich viel zu viel Stoff. Die Mengen sind um die Taille mit einem einfachen, schwarzen Gurt zusammengerafft. Zum Teil hängt sogar noch etwas von dem silbergrauen Material drüber. Der Mantel ist von vorne unten fast bis zu den Hüften aufgeschlitzt. Es ist zu erkennen, dass sie darunter einen ausladenden, weissen Rock trägt. Sie sieht in diesem Aufzug sehr imposant aus. Irgendwie bedeutend.
Che und Jamin dagegen sehen eher wie zwei Lausbuben aus einer anderen Welt als der Westlichen. Sie tragen beide weite rostrote Hosen, die aussehen, als wären sie zu gross. Um die Hüfte ist ein schwarzes Seidentuch geschlungen, das wohl als Gurt dienen soll oder so. Oben haben sie beide eine eng anliegende, braune Lederweste an, die sich vorne schnüren lässt. Sie tragen dazu Ledersandalen und haben beide einen rostroten Umhang über den Schultern, den sie vorne mit einer Holzspange zusammenhalten. Bei Che ist um den Hals eindeutig die silberne Kette zu erkennen. Bisher ist es mir nie aufgefallen. Die Narben im Gesicht und am Bauch sind nur schwach zu erkennen. Es hat ein Riesenkrach mit Mama gegeben, als sie es entdeckt hat. Che hat was von einem Unfall geschwafelt, er sei irgendwo runter gefallen und Philo sei nicht im Stande gewesen, es anständig zu heilen. Mami glaubt ihnen kein Wort, solche Narben entstehen nur von den Flüchen der Menschen.
Beide haben ein diebisches Grinsen im Gesicht. Jamin freut sich riesig auf sein erstes Jahr in der Zauberschule. Er ist im normalen Unterricht immer unterfordert gewesen. Und Che, nun ja, er freut sich auf die Wiederkehr zu seinem Spielplatz. Denn nichts anderes ist es für ihn. Dort kann er seiner Fantasie freien Lauf lassen und sie mit Magie vermischen. Es ist sein kleines Privatparadies. Jedem wird er gerne die Türe öffnen, der sich ebenfalls an solch kleinen Sachen erfreut wie er. Es ist kaum zu beschreiben, was diese Schule für Che bedeutet. Nicht zuletzt deshalb, weil er eigentlich niemals darüber spricht und keiner ausser Philo und ich so wirklich wissen, was in ihm hinter der Fassade vorgeht.
Philo, der einzige, der nicht in die Elementeschule geht. Er sitzt neben Che, allerdings sehen die beiden so viel anders aus. Eine gewisse Ähnlichkeit sieht man freilich noch immer, aber etwas ist anders. Hier erkenne zumindest ich ganz genau, dass Che der Träumer und Philo der Realist der beiden ist. Che ist die Seele, unbeschwert und flatterhaft, sich gerne tragen lässt und keine Sorgen hat, während Philo das Herz ist, ohne das es nicht gehen würde und das hart fürs Überleben kämpft.
Er sitzt da, ohne eine Miene zu verziehen. Seine Uniform ist dunkelblau, beinahe schwarz. Er trägt Hosen mit Bügelfalte, ein weisses Hemd unter der blauen Weste, eine ebenfalls blaue Krawatte und ein blaues Jackett. Wie ein ganz gewöhnlicher Bankmanager oder so etwas würde er aussehen, wäre da nicht noch der schwingende, wiederum blaue Umhang über seinen Schultern und natürlich seine Rastafrisur. Ausserdem das Schulabzeichen auf der linken Brust. Es fällt auf, dass Philo eine Eliteschule besucht. Die Kette ist bei ihm nur ansatzweise zu sehen.