Alessa
Und alle sagen, die Hoffnung stirbt zuletzt
Die Meisten haben schon mal von Magersucht gehört, ebenso wie die Meisten denken, sie selbst würden nie daran erkranken. Fast jeder kennt die Fakten. Weiß, was Anorexia nervosa ist, kennt die ungefähre Heilungschance. Hat Bilder gesehen, wie Magersüchtige aussehen.
Aber die wenigsten sind sich im Klaren darüber, wie es wirklich ist. Haben den Kampf nicht miterlebt, den Kampf für jeden Happen Essen, den Kampf dieses bei sich zu behalten. Den Kampf, der von einigen Betroffenen nicht einmal gekämpft werden möchte.
Seit der Grundschule sind K. und ich enge Freundinnen. In mehr als der Hälfte meines Lebens hat sie eine Rolle gespielt, mal eine Kleinere, mal eine Größere. Seit mehr als einem Jahr ist es die größere Rolle. Denn sie ist psychisch krank, hat Anorexia nervosa.
Dies ist unsere Geschichte, von ihr, von mir, und von der Magersucht.
KAPITEL 1
Wann genau K. aufgehört hat zu essen, kann ich nicht sagen. Aber ich schätze, das kann man oft nicht. Es ist ein Prozess, der sich langsam entwickelt. Wenn ich jetzt zurückdenke, hatte sie die ersten Zeichen wohl im Frühling bzw. Sommer 2008 gezeigt. Ich erinnere mich noch genau an das verlängerte Wochenende im Juni, als unsere Eltern zusammen Fahrradfahren waren. Meine kleine Schwester und ich wohnten für die vier Tage bei K. und wir hatten das Haus für uns alleine. Draußen war es warm, die Sonne schien, und alles schrie nur so nach Schwimmen gehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Stunden wir im Stadtbad verbracht haben, aber es müssen einige gewesen sein. Damals fing sie erstmals an, sich zu beklagen, dass sie zu dick sei, und Diät machen müsste. Ausgerechnet sie, groß und dünn wie ein Brett. Ich hielt es für eine Spinnerei, viele Mädchen in der Pubertät beschweren sich ja bekanntlich über ihren Körper.
Der Sommer ging vorüber, und abgesehen von ein paar weiteren Klagen, die von mir und allen anderen mit einem „Ach was, du bist doch nicht dick!“ beantwortet wurden, war alles normal. Falls sie in der Zeit schon abgenommen haben sollte, habe ich, wie ich zugeben muss, nichts davon gemerkt. Auch den Winter über schien alles wie immer zu sein, K. hatte aufgehört, von Diäten und Abnehmen zu sprechen. Allerdings nahmen in dieser Zeit ihre Depressionen, die sie seit längerem schon hatte, zu. Davon wusste ich allerdings nichts, denn obwohl wir zwei schon seit zehn Jahren Freundinnen waren, hatte sie mir nichts davon erzählt.
Als es draußen wieder wärmer wurde, und alle wieder engere Sachen trugen, schien sie doch etwas dünner zu sein. Ich wollte allerdings nicht wahrhaben, dass etwas nicht stimmen könnte, und redete mir ein, dass alles normal sei, schließlich war sie schon immer dünn gewesen. Letztendlich glaubte ich es, nachdem ich es mir oft genug gesagt hatte, wahrscheinlich selbst.
Für mich war bei ihr keine wesentliche Veränderung ersichtlich, sie war wie immer – meine Freundin K. eben.
Ich schätze, bei vielen Menschen ist dieses „etwas nicht wahrhaben wollen“ vorhanden. Und meistens werden einem doch die Augen geöffnet, und dann findet man sich an einem Abgrund wieder, ohne zu wissen, wie man dort überhaupt hingekommen ist.
Meine Augen wurden von einer anderen Freundin - B. – und meiner Mutter geöffnet. Die Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte, fing an, als B. in der Schule in Englisch ein Referat über Anorexie hielt. K. war an diesem Tag nicht in der Schule. Zur gleichen Zeit fing dann meine Mutter an, mir komische Fragen zu stellen. Wie es zurzeit zwischen K. und mir liefe. Das K. in letzter Zeit dünn geworden wäre, oder ob ich das anders sähe. Tief in meinem Inneren sträubte ich mich aber gegen diese Erkenntnis, dagegen, dass meine Freundin psychisch krank ist. Was dazu beitrug, dass ich es noch immer nicht sah, war wohl auch, dass K. es mir nichts sagte.
Noch heute kann ich nicht sagen warum, und bin noch immer verletzt darüber. Ich dachte immer, wir ständen uns so nahe, dass wir über so etwas miteinander reden. Immerhin ist Magersucht kein kleines Problem, dass einfach so gelöst werden kann.
Letztendlich war es auch nicht sie, die mir sagte, dass sie magersüchtig ist, sondern meine Mutter.
Nachdem ich davon wusste, schien meine ganze Welt zu zerbrechen. Ich konnte es nicht fassen, dass K. psychisch krank war, dass ich nichts davon bemerkt hatte, und zweifelte an mir selbst, an meiner Fähigkeit als Freundin. Zudem fraß mich die Tatsache, dass ich noch immer nicht mit ihr darüber geredet hatte, innerlich auf. Ich wollte nicht am Telefon mit ihr darüber sprechen, ebenso wenig in der Schule. Also fragte ich sie immer wieder, ob sie Zeit hätte, bis wir uns schließlich mit den Hunden trafen, um zusammen Gassi zu gehen.
Ich muss wohl ziemlich hilflos gewesen sein, konnte das Thema nicht anschneiden, dass mir so auf dem Herzen lag. Anfangs versuchte ich es mit unverfänglichen Themen, tat so, als sei alles normal. Aber meine Schauspielerischen Fähigkeiten dürften nicht allzu groß sein, denn irgendwann sah sie mich von der Seite an, und fragte:
„Du weißt es, oder?“
Ich werde nie den Blick aus ihren großen braunen Augen vergessen, als sie mich so ansah, nie die Leere darin. Stumm nickte ich, während mir Tränen über das Gesicht liefen, und ich unfähig zu sein schien, etwas zu sagen.
Die nächsten Meter legten wir in Schweigen zurück, jeder schien mit sich selbst zu beschäftigt zu sein. Dann setzte sie zum Sprechen an, und erzählte mir alles. Oder auch nicht, wie ich später herausfinden sollte. Von ihren Problemen, zu essen, dass sie nicht essen möchte, sich zu dick findet. Von ihren schlimmen Depressionen, davon, dass sie seit wenigen Wochen in Therapie gehe, es aber schlecht laufe. Von den Problemen mit ihren Eltern, mit denen sie in der letzten Zeit nur noch stritt.
Und sie erzählte mir, dass ihre Psychologin meinte, dass sie in eine Klinik gehen müsse, wenn sie noch weiter abnehme, und unter die 40 Kilogramm Grenze komme. Ihr nächster Satz war, dass sie nur noch 39,5 Kilo wiegt, ich aber niemand etwas sagen dürfe, sie würde das schon irgendwie hinbekommen.
174 cm und 39,5 Kilogramm.
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Über Kritik und evtl. falls schon möglich andere Titelvorschläge würde ich mich freuen
