Flaw
Der Kalender schrieb den 17. Februar 1999, ein recht kühler, wenn auch sonniger Mittwoch. Ich war vor wenigen Stunden aufgestanden, noch nichts ahnend von der kaputten Schüssel, dem Wutausbruch meines Vaters und dem blutenden Knie, dass ich mir heute holen würde. Da stand ich also nun unten in der Küche und sah meiner Mutter zu, wie sie kochte. Obwohl es Mittwoch war, gab es kein Fleisch. "Heute vor vielen tausend Jahren brach unser Herr Jesus Christus auf, um in der Wüste zu fasten", war ihre Erklärung hierzu und mein kindliches, fünfjähriges Gehirn fing an zu arbeiten. Es suchte alle möglichen Definitionen von "Fasten" heraus, bis ich letztendlich zu dem Schluss kam, dass es Sterben bedeuten musste. Ich stellte mir also vor, wie diese bemalte Holzfigur, die wachend an einem Kruzifix von der Küchenwand auf mich herabstarrte, vor unvorstellbar langer Zeit (so unverstellbar lang wie die Tage bis Weihnachten) durch eine Wüste gewandert und gestorben war. Jesus musste verdurstet sein. Denn, so hatte mir mein Opa erzählt, wenn man lange kein Wasser mehr trinkt, dann trocknet der Körper aus, schrumpft zusammen und wird mager und schrumpelig. Genauso, wie diese Figur dort oben aussah. Lange Zeit starrte ich wie hypnotisiert zu ihr rauf. Mein Nacken schmerzte und ein kalter Schauder überlief mich, als mir die Erkenntnis kam, dass die Leiche des Heillands in unserer Küche hing.
Meine Mutter rief zum Essen. Ich half ihr, den Tisch zu decken und setzte mich dann artig, mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf an den alten, zerkratzten Küchentisch. Zuerst kamen meine Großeltern, die ihre Stube genau neben der Küche hatten und die, meiner Ansicht nach zumindest, den ganzen Tag vor dem Verbindungsloch saßen und darauf warteten, dass es etwas zu Essen gab. Dann kam mein Vater, wie immer zu spät. Er roch nach Stall, frischer Bergluft und Holz. Seine blaue Arbeitshose war dreckig und seine großen Stahlkappenstiefel dröhnten dumpf auf den Fliesen. Ich sah respektvoll zu ihm auf, diesem großen, schon fast kahlem Mann mit dem dünnen Schnurrbart, der mir fremd und zugleich vertraut war, ein Machtsymbol in meinem tagtäglichen, von Regeln geprägtem Alltag. Wir beteten, ein Ritual, das hauptsächlich von meinem Großvater und meinem Vater vorangetrieben wurde. Die Frauen in unserer Familie, zumindest die jüngeren Generationen, hatten noch nie viel übrig gehabt für die religiösen Glaubensbekenntnisse im Alltag. Man ging zwar jeden Sonntag in die Kirche, zuweilen auch Samstagabends, und man feierte jeden Feiertag brav mit, weil es meistens Kaffee, Kuchen und Schnaps gab. Aber diesen fanatischen Glaubensfimmel, den die beiden Männer betrieben, war ihnen nicht ganz geheuer.
Wir aßen also, und weil ich mit kindlicher Überzeugung daran glaubte, dass heute der Todestag Jesu war, kamen mir alle noch ernster vor, als sie es sowieso schon waren. Wenn wir aßen wurde weder gelacht noch geredet. Stillschweigendes Löffelklappern begleitete die zehn bis fünfzehn Minuten, die unser Mittagessen höchstens dauerte. Als ich fertig war, stand ich auf und wollte meine Schüssel zum Spülbecken bringen. Ich weiß nicht, warum, aber ich ließ sie fallen. So wie man stolpert. So, wie wenn man etwas vergisst und es einem urplötzlich wieder einfällt. Es passierte einfach.
Mein Vater, der an ca. sechs Tagen die Woche schlechte Laune hatte, musste heute natürlich seinen absoluten Tiefpunkt haben. Er sprang auf und brüllte mich an, solange, bis ich mich bückte und alle Scherben einzeln aufsammelte. Ich passte sorgfältig darauf auf, mich nicht zu schneiden, während Tränen der Wut in meinen Augen brannten. Ich weinte ständig und zu jedem Anlass. Wenn ich furchtbar lachen musste. Wenn ich mir weh getan hatte. Aber am allerschlimmsten weinte ich, wenn ich sauer war. Ich verließ die Küche, ohne das Dankesgebet abzuwarten, was einen neuerlichen Aufschrei der Empörung seitens meines Vaters auslöste. Ich hörte das Stampfen seiner schweren Stiefel hinter mir und flüchtete mich nach draußen. Ich versteckte mich in der Scheune, und während ich darauf wartete, dass die Luft rein würde, kroch mir die Kälte des Steinbodens in die Glieder. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß, aber als ich mich schließlich heraustraute, lag der Hof still und friedlich in der Mittagssonne vor mir. Ich trat auf die Straße, die tiefer in unser kleines Dorf hineinführte, und der klare Himmel hellte meine Laune augenblicklich wieder auf. Ich vergaß das Erlebte, als ich mit den kümmerlichen, braunen Grashalmen spielte, bis ich ein fröhliches Lachen hörte. Vanessa kam auf mich zugehüpft. Sie war neu im Dorf, zugezogen. Sie sprach Hochdeutsch und hatte keine Religion, und eigentlich durfte ich nicht mit ihr spielen. Doch genau das machte sie zu meiner engsten Verbündeten.
Ihr Lachen verstimmte mich. An einem Todestag lachte man nicht, und wenn mein Vater ernst war, hatten gefälligst auch alle anderen ernst zu sein. "Pssscht. Heute darf man nicht lachen." Vanessa sah mich leicht verdutzt an, war der komplette Gegensatz von mir. Dunkelhäutig, schwarze Haare, braune Augen.
"Aber warum nicht?"
"Weil heute Jesus gestorben ist."
"Oh."
Wir schwiegen.
"Wer ist Jesus?"
"Er hängt in unserer Küche."
"Aber wenn er doch in eurer Küche hängt, kann er nicht tot sein."
"Doch. Seine Leiche hängt da."
"Iiiih. Und der ist heute gestorben?"
"Nein, vor vielen, vielen Jahren."
"Achso. Aber wer ist er denn jetzt?"
"Unser Heilland."
"Was bedeutet das?"
Wir schwiegen wieder.
"Keine Ahnung."
Da begann Vanessa wieder zu lachen, und zwar so laut und übertrieben fröhlich, dass ich einfach mit lachen musste.
"Wenn du ihn nicht gekannt hast, dann brauchst du doch auch nicht um ihn traurig sein. Hast du Lust zu spielen?"
Und als ich nickte, zog sie ihren neuen Flummi aus der Tasche und wir verschwanden auf den Dorfplatz.
Als ich diesen Abend wieder kam, mit Rotznase und blutigem Knie, schien heute Mittag vollkommen vergessen zu sein. Vater nahm mich auf seinen Schoß, während meine Mutter mein Knie verarztete und Opa Grimassen schnitt. Ich liebte meinen Opa abgöttisch, und wieder wurde mir bewusst, wie zwiegespalten meine Familie an sich und in sich war. Doch diesen kurzen Moment fühlte ich sowas wie Zuneigung zu ihnen allen, fühlte ich mich geborgen in ihrem Kreis. Dieser kurze Moment blieb mir im Gedächtnis, bis heute.
Meine Mutter rief zum Essen. Ich half ihr, den Tisch zu decken und setzte mich dann artig, mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf an den alten, zerkratzten Küchentisch. Zuerst kamen meine Großeltern, die ihre Stube genau neben der Küche hatten und die, meiner Ansicht nach zumindest, den ganzen Tag vor dem Verbindungsloch saßen und darauf warteten, dass es etwas zu Essen gab. Dann kam mein Vater, wie immer zu spät. Er roch nach Stall, frischer Bergluft und Holz. Seine blaue Arbeitshose war dreckig und seine großen Stahlkappenstiefel dröhnten dumpf auf den Fliesen. Ich sah respektvoll zu ihm auf, diesem großen, schon fast kahlem Mann mit dem dünnen Schnurrbart, der mir fremd und zugleich vertraut war, ein Machtsymbol in meinem tagtäglichen, von Regeln geprägtem Alltag. Wir beteten, ein Ritual, das hauptsächlich von meinem Großvater und meinem Vater vorangetrieben wurde. Die Frauen in unserer Familie, zumindest die jüngeren Generationen, hatten noch nie viel übrig gehabt für die religiösen Glaubensbekenntnisse im Alltag. Man ging zwar jeden Sonntag in die Kirche, zuweilen auch Samstagabends, und man feierte jeden Feiertag brav mit, weil es meistens Kaffee, Kuchen und Schnaps gab. Aber diesen fanatischen Glaubensfimmel, den die beiden Männer betrieben, war ihnen nicht ganz geheuer.
Wir aßen also, und weil ich mit kindlicher Überzeugung daran glaubte, dass heute der Todestag Jesu war, kamen mir alle noch ernster vor, als sie es sowieso schon waren. Wenn wir aßen wurde weder gelacht noch geredet. Stillschweigendes Löffelklappern begleitete die zehn bis fünfzehn Minuten, die unser Mittagessen höchstens dauerte. Als ich fertig war, stand ich auf und wollte meine Schüssel zum Spülbecken bringen. Ich weiß nicht, warum, aber ich ließ sie fallen. So wie man stolpert. So, wie wenn man etwas vergisst und es einem urplötzlich wieder einfällt. Es passierte einfach.
Mein Vater, der an ca. sechs Tagen die Woche schlechte Laune hatte, musste heute natürlich seinen absoluten Tiefpunkt haben. Er sprang auf und brüllte mich an, solange, bis ich mich bückte und alle Scherben einzeln aufsammelte. Ich passte sorgfältig darauf auf, mich nicht zu schneiden, während Tränen der Wut in meinen Augen brannten. Ich weinte ständig und zu jedem Anlass. Wenn ich furchtbar lachen musste. Wenn ich mir weh getan hatte. Aber am allerschlimmsten weinte ich, wenn ich sauer war. Ich verließ die Küche, ohne das Dankesgebet abzuwarten, was einen neuerlichen Aufschrei der Empörung seitens meines Vaters auslöste. Ich hörte das Stampfen seiner schweren Stiefel hinter mir und flüchtete mich nach draußen. Ich versteckte mich in der Scheune, und während ich darauf wartete, dass die Luft rein würde, kroch mir die Kälte des Steinbodens in die Glieder. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß, aber als ich mich schließlich heraustraute, lag der Hof still und friedlich in der Mittagssonne vor mir. Ich trat auf die Straße, die tiefer in unser kleines Dorf hineinführte, und der klare Himmel hellte meine Laune augenblicklich wieder auf. Ich vergaß das Erlebte, als ich mit den kümmerlichen, braunen Grashalmen spielte, bis ich ein fröhliches Lachen hörte. Vanessa kam auf mich zugehüpft. Sie war neu im Dorf, zugezogen. Sie sprach Hochdeutsch und hatte keine Religion, und eigentlich durfte ich nicht mit ihr spielen. Doch genau das machte sie zu meiner engsten Verbündeten.
Ihr Lachen verstimmte mich. An einem Todestag lachte man nicht, und wenn mein Vater ernst war, hatten gefälligst auch alle anderen ernst zu sein. "Pssscht. Heute darf man nicht lachen." Vanessa sah mich leicht verdutzt an, war der komplette Gegensatz von mir. Dunkelhäutig, schwarze Haare, braune Augen.
"Aber warum nicht?"
"Weil heute Jesus gestorben ist."
"Oh."
Wir schwiegen.
"Wer ist Jesus?"
"Er hängt in unserer Küche."
"Aber wenn er doch in eurer Küche hängt, kann er nicht tot sein."
"Doch. Seine Leiche hängt da."
"Iiiih. Und der ist heute gestorben?"
"Nein, vor vielen, vielen Jahren."
"Achso. Aber wer ist er denn jetzt?"
"Unser Heilland."
"Was bedeutet das?"
Wir schwiegen wieder.
"Keine Ahnung."
Da begann Vanessa wieder zu lachen, und zwar so laut und übertrieben fröhlich, dass ich einfach mit lachen musste.
"Wenn du ihn nicht gekannt hast, dann brauchst du doch auch nicht um ihn traurig sein. Hast du Lust zu spielen?"
Und als ich nickte, zog sie ihren neuen Flummi aus der Tasche und wir verschwanden auf den Dorfplatz.
Als ich diesen Abend wieder kam, mit Rotznase und blutigem Knie, schien heute Mittag vollkommen vergessen zu sein. Vater nahm mich auf seinen Schoß, während meine Mutter mein Knie verarztete und Opa Grimassen schnitt. Ich liebte meinen Opa abgöttisch, und wieder wurde mir bewusst, wie zwiegespalten meine Familie an sich und in sich war. Doch diesen kurzen Moment fühlte ich sowas wie Zuneigung zu ihnen allen, fühlte ich mich geborgen in ihrem Kreis. Dieser kurze Moment blieb mir im Gedächtnis, bis heute.