Soso
sie lief.
oder: bis ein neuer tag anbrach
oder: bis ein neuer tag anbrach
Wenn sie nicht lief, blieb sie stehen. Wenn sie nicht lief, holten sie sie ein. Deshalb lief sie. Deshalb lief und lief und lief sie, bis die Gedanken, die ihren Kopf wie ein Schwarm Motten eine Lichtquelle umschwirrten, nur noch kurz aufflackerten, aber keine Einheit mehr bilden konnten, die ihre Lungen zusammenpresste und sie nicht mehr atmen ließ. Wenn sie lief, war sie frei. Dann war sie ein Vogel. Schön, bunt, stark und so vielfältig, dass man sich an ihrer Schönheit gar nicht sattsehen konnte. Dann spreizte sie ihre Flügel, die, so schien es, nur für diesen Moment gemacht worden waren, die jedem Betrachter den Atem raubten vor solcher Eleganz. Wenn sie ein Vogel war, dann flog sie. Dann konnte sie ihre Flügel spreizen und abheben, über den Ozean hinaus, in eine andere, bessere Welt, weit weg von hier, weg von diesem Ort.
Außer ihrem gleichmäßigem Atmen hörte sie nur das Meer, wie es sanft an den Strand rollte. Viele nannten ihren Platz in dieser Welt ein Paradies. Für sie war es die Hölle. Für sie bedeutete es Demütigung, Schmerz und Angst. Sie konnte sie nur überwinden, konnte sie nur vergessen, wenn sie lief, wenn sie frei, wenn sie ein Vogel war.
Sie träumte nachts davon, in diesen ebenso himmlischen wie teuflischen Nächten des Sehnens, dass sie es eines Tages schaffen würde. Dass sie gehen würde, dass sie fliehen könnte, dass sie den Mut hätte, zu fliegen und ihre Wünsche wahrzumachen, ihre Träume von der besseren Welt, die es dort draußen sicherlich gab. Doch war dieser Wunsch tatsächlich stärker als die Angst? Stärker als alles, was sie sonst fühlte? Die Liebe zu ihren Kindern? Die Loyalität zu ihrer Familie, die in ihrer Kultur lag, die ihr anerzogen wurde? Die Liebe zu ihrem Land? So schrecklich sie auch war? Konnte sie das wirklich alles vergessen, nur um ihre eigene Haut zu retten?
Sie lief und lief und lief. Sie durfte nicht denken. Sie durften sie nicht einholen. Die Gedanken. Sie waren böse. Finstere Dämonen, die besonders gegen Abend aus ihren Löchern zu schlüpfen schienen, nur um sie zu packen, um sie an den Boden zu knebeln, wenn sie gerade mal etwas Luft geschnappt hatte. Wenn sie nicht dachte, war alles ganz leicht. Dann konnte sie ihre Kinder und ihren Mann versorgen und die Arbeit verrichten. Wenn sie nicht dachte, konnte sie den Schmerz ausblenden. Dann konnte sie die Augen schließen und sich abkapseln und dann kam ihr alles nicht mehr vor, als würde sie selbst es erleben, nein, dann war sie eine Nebenstehende. Das machte es ganz einfach.
Aber wenn er weg war, die Kinder schliefen und sie nur ihren eigenen, flachen Atem hörte, dann kamen sie aus ihren Höhlen, die Gedanken. Und dann wünschte sie sie wäre ein Vogel und dann lief sie. Dann lief und lief und lief sie und wünschte, sie könnte fliegen.
Bis ein neuer, tauber Tag anbrach.
Meine erste 'Kurzgeschichte' (es ist theoretisch keine, da sie im Präteritum geschrieben ist, ich weiß, aber anders ging es für mich nicht, anders hat es nicht gepasst, nennen wir es Kurztext) seit langer, langer Zeit. Sie soll nachdenklich machen, ich denke, das ist bewusst. Mehr möchte ich auch eigentlich gar nicht dazu sagen, was ich gedacht habe, was mich zu dieser Darstellung verleitete, welche Kultur mich beschäftigt hat. ich denke, man kann es auf viele Kulturen, Länder und Situationen anwenden und finde, dass jeder Leser sich ein eigenes Bild machen sollte. Für mich persönlich ist diese Geschichte weniger eine Geschichte als ein Bild, eine Momentaufnahme, die eine Geschichte nur anreißt, keineswegs erzählt. Als Titel hätte ich eigentlich auch 'Bis zum Morgengrauen' sehr sehr passend gefunden, aber dann hätten leider alle an Twilight gedacht...
Lob und Kritik sind gerne gesehen!
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