eschatologische Betrachtungen

theroorback
Zwei Salzkörner spielten weiland auf einem Schneidebrett nicht allzufern von ihrem Streuer. Am liebsten sahen sie einigen am Rand des Brettchens versteckten Zwiebelresten beim Schimmeln zu oder liefen durch einen Wassertropfen und wogen, wer dabei weniger Gewicht verlor.
Eines Tages, als die beiden sich gerade zum Spielen mit einem Zuckerwürfelrest verabredet hatten und auf dem Weg zum süßen Heinrich waren, erhob sich urplötzlich der Salzstreuer hinter ihnen, vom Koch mit der harten Hornhaut an den Händen bewegt und die Körnchen sahen ihre ganze Familie in die genozidale Hölle der Spargelcremesuppe eintauchen. Alle Freunde, alle Verwandten wurden totdiffundiert, der heimatliche Streuer auf dem für die winzigen Körnchen unerreichbaren Gewürzregel deponiert.
Was sollten sie jetzt tun? Einsame Waisen waren sie.
Da sprach das eine Korn zum anderen: "Ich habe mal eine Geschichte gehört, als uns der freche Junge mit in die Kirche nahm, um das Weihwasser zu salzen! Da ging es um ein Korn, das wuchs und irgendwann zu einem gewaltigen Baum wurde. Wenn wir zu so einem Baum werden, könnten wir den Koch tothauen!", da entgegnete der andere Salzkristall, ein Kristall mit reiner Anmut, "Du törichtes Korn! Das war ein Senfkorn, eine organische, ja, biologische Verbindung! Aus Kohlenstoff aufgebaut, eine Anhäufung komplexer Moleküle. Wir sind anorganisch, schnöde Ionenverbindungen. Natriumchlorid fehlt ganz und gar die Möglichkeit so zu wachsen. Wir können zu großen Kristallfeldern werden, wenn wir uns vereinigen, uns einem Salzkollektiv unterordnen, aber diese Mannigfaltigkeit der organischen Verbindungen wird uns immer verwehrt bleiben.".
Doch dieses Problem stellte sich für das andere Tafelsäzchen nicht, welches apropos mit Folsäure versetzt worden war, um gewisse in der Bevölkerung verbreitete Mangelerscheinungen zu minimieren.
Es war überzeugt, sein Wille, organisch zu werden, reiche aus, es war über jeden Zweifel erhaben, jedoch bereitete ihm anderes Sorgen. Unser halogenidhaltiger Revanchist wurde sich wohlbewusst, dass jede Chance Rache zu üben, mit der aufgabe seiner Identität verbunden sein würde. Er Teil eines Salzkollektivs, das dem Koch langsam die Flüssigkeit entzieht oder er Teil einer Kohlenstoffverbindung, in der sein Natrium und sein Chlor nur marginale Spuren wären. Wäre er das noch? Kann ein Individuum so im Großen partizipieren, zum Dividuum werden und nichtsdestoweniger das Eigene behalten? Über solche Fragen zermartert man sich und aufgerieben von skeptischen Umtrieben warf sich das verzweifelte Salzkorn in den brodelnden Schlot des Kochtopfs. Eine selbstlose Handlung vollbringend, opferte er sich für den Genuss des Feindes, als die Mahlzeit des Kochs verfeinernder Märtyrer übergab sich dieses gitterenergetische Gebilde einer höheren moralischen Spähre. Welches Gewürz vermag zu richten? Curry, wahrlich, der Curry vermag es!
Soso
Großartig. Die richtige Mischung aus Slapstick und zynischer Schärfe. Wirklich gut gemacht, gut geschrieben, klasse Idee Augenzwinkern
Knopfloch
Ich finde es nur schade, dass das zweite Salzkorn am Ende so ausgeblendet wird, man möchte doch wissen was mit ihm passiert!

Und einen Tippfehler hätt ich noch zu bemängeln: "Gewürzregel"

Ansonsten toll, man kann sich richtig in die Gedankenwelt hineinversetzen smile
Luca
Ich bin sowohl von dir, als auch von Knopfloch enttäuscht unglücklich .

Zunächst Mal hat Knopfloch übersehen, dass die "Aufgabe seiner Identität" ein Nomen ist und somit großgeschrieben wird. (Sowas, Knopfloch! Und dabei liest du momentan auch noch Pratchett!)
Außerdem meinst du doch sicherlich ein Tafelsälzchen oder möchtest du mit Sätzchen verzücken? Ein weiterer Faux-Pas, welcher Knopfloch, dem fleischgewordenen Duden, entgangen ist... na ja, man wird halt auch nicht jünger.

Außerdem frage ich mich, ob es diesem Satz ("Er Teil eines Salzkollektivs, das dem Koch langsam die Flüssigkeit entzieht oder er Teil einer Kohlenstoffverbindung, in der sein Natrium und sein Chlor nur marginale Spuren wären.") nicht neben Orginalität auch an Satzzeichen mangelt. Hier bin ich mir allerdings nicht ganz sicher.

Enttäuscht von dir, theroorback, übrigens, weil dies wahrlich eine deiner weniger einfallsreichen Geschichten ist, ebenso wie eine der einfachsten. Darf man dies ein Stück weit auch als Resignation interpretieren?
Außerdem solltest du deinen Hang zu antiquitierten Formulierungen noch einmal überdenken. In unserer schnelllebigen Zeit... oder dient dir das zweite Salzkörnchen als Götze?
theroorback
Zitat:
Original von Luca
Außerdem frage ich mich, ob es diesem Satz ("Er Teil eines Salzkollektivs, das dem Koch langsam die Flüssigkeit entzieht oder er Teil einer Kohlenstoffverbindung, in der sein Natrium und sein Chlor nur marginale Spuren wären.") nicht neben Orginalität auch an Satzzeichen mangelt. Hier bin ich mir allerdings nicht ganz sicher.

Nein, die Interpunktion ist korrekt.

Zitat:
Enttäuscht von dir, theroorback, übrigens, weil dies wahrlich eine deiner weniger einfallsreichen Geschichten ist, ebenso wie eine der einfachsten. Darf man dies ein Stück weit auch als Resignation interpretieren?

Ich werde nie müde, über anthropomorphisierte Nahrungsmittel zu schreiben. Es ist eine Identifikation mit dem Feind. Essen ist für mich eine Tortur und daher ein unerschöftliches Thema.

Zitat:
Außerdem solltest du deinen Hang zu antiquitierten Formulierungen noch einmal überdenken. In unserer schnelllebigen Zeit... oder dient dir das zweite Salzkörnchen als Götze?

Du verstehst nicht, denn Stil und Inhalt bilden bei mir immer eine Einheit.
Außerdem weiß ich nicht, was du mit "antiquiert" meinst. Die zeitgenössische Literatur jenseits der Bestsellerlisten...naja, lassen wir das. smile