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"Julian, du bist dir auch wirklich sicher, dass du das machen möchtest? Dein Vater und ich wollen dich zu nichts zwingen."
"Ja, Mama."
"Und das sagst du nicht nur, weil du uns einen Gefallen tun möchtest?"
"Nein, Mama", seufze ich ihr einen genervten Blick zuwerfend. Die gesamte Fahrt hat sie mich mit irgendwelchen Fragen durchlöchert - und da ich schon vorher unsicher gewesen bin, ob das wirklich eine so gute Idee ist, mit diesem Kerl zu reden, ist es inzwischen nur noch schlimmer geworden. Nervös sehe ich auf das Schild an der Haustür: Psychologe Dr. Heinrich Metzer.
Er wird mit einem riesen Hackbeil auf mich warten und mich in Stücke zerfetzen, stelle ich schaudernd fest.
'Und mir vorhin noch erzählen, es würde keiner sterben.'
Ach, auch mal wieder da? Ich hatte mich schon gewundert, weil du so still gewesen warst.
'Gab einfach nichts Interessantes, wo ich meinen Senf dazugeben wollte', erwidert er schulterzuckend und geht ein Stück vor, um einen Blick durch die Glastür in das dahinter liegende Treppenhaus zu werfen.
"Okay, Julian, soll ich mit rein kommen oder willst du das lieber allein machen?", fragt Mama mir aufmunternd eine Hand auf die Schulter legend und leicht zudrückend. Mein Magen zieht sich schmerzend zusammen, während ein Kloß sich in meinem Hals festsetzt, der jegliche Antwort unmöglich zu machen scheint.
'Sei nicht so ein Schisser', stichelt er sich grinsend zu mir umdrehend, weshalb ich ihm einen mordlüsternen Blick schenke.
Wer hat vorhin depressiv auf meinem Bett gehockt, weil er Angst hatte, huh?, schnaufe ich noch immer nicht über sein Schweigen hinweg. Ich bin mir sicher, dass er gemerkt hat, wie sehr es mich verltzt hat - und trotzdem hat er sich nicht entschuldigt. Nicht einmal subtextmäßig.
'Ah', macht er er langezogen, blickt nachdenklich drein, nur um anschließend wieder breit zu grinsen, 'Schwamm drüber. Abgesehen davon hast du doch gesagt, dass du nicht zulassen wirst, dass mir irgendetwas passiert.'
"Ich gehe allein rein", würge ich hervor, um jeglichen Beleidigungen à la 'Pussy' zu entgehen, mit denen ich sonst sicherlich von diesem herzallerliebsten zweiten Ich überschwemmt worden wäre. Meine Mutter nickt mir bestätigend zu.
"In Ordnung", seufzt sie mit einem liebevollen Lächeln, ehe sie mich noch einmal in den Arm nimmt und drückt, "Ich gehe so lange einkaufen. Hier in der Nähe gibt es bestimmt einen Supermarkt. In anderthalb Stunden bin ich wieder hier und hole dich ab."
Sie winkt mir noch zum Abschied, ehe sie ins Auto steigt und davonfährt. Ich stehe wie ein begossener Pudel im Regen da und starre hilfesuchend das Haus hinauf.
'Du solltest schon reingehen', erhalte ich diesen unglaublich hilfreichen Rat, den ich mit einem genervten 'Ach ne!' kommentiere, ehe ich ihm Folge leiste.
'Und warum hast du jetzt so schlechte Laune?', hakt er angefressen nach, wobei ich ihn getrost ignoriere und die Klingel drücke. Als ein Surren ertönt, drücke ich gegen die Tür und trete ein. An der Wand zu meiner Rechten hängt ein Schild, das mir zeigt, welcher Arzt in welchem Stockwerk haust - und ich muss ins zweite.
'Würdest du mir bitte antworten?'
Nein.
'Ich habe dir vorhin auch gesagt, was los ist.'
Ist mir egal.
'Bitte, dann mach eben einen auf stur. Ist mir doch scheiß egal, wie es dir geht', schnauft er, ehe ich merke, dass seine Präsenz sich stark zurückzieht. Unsicher werden meine Schritte die Treppe hinauf langsamer. Alles um mich herum scheint plötzlich kühler geworden zu sein, was mich schwer schlucken lässt.
"Schön, ich brauche dich auch nicht", murre ich leise, ehe ich eine Hand aufs Treppengeländer lege und weiter gehe, bis ich vor der Tür des Psychologen angekommen bin. Sie ist bloß angelehnt, weshalb ich einfach eintrete. Der Warteraum ist ziemlich klein und wirkt mehr wie ein zu breit geratener Flur. Auf der linken Seite befinden sich drei Stühle sowie ein kleiner Tisch am Ende der Reihe, auf dem sich einige Zeitschriften befinden. Über ihnen hängt ein Gemälde, das einen See mit umliegenden Bäumen im Herbst zeigt. Gerade will ich es mir genauer ansehen, als die Tür am anderen Ende des Flurs schwungvoll aufgerissen wird.
"Du musst Julian sein!", tönt eine laute - wirklich sehr laute - Stimme herüber. Wahrscheinlich hätte ich den Kerl auch aus einem Kilometer Entfernung noch nach mir rufen gehört, weshalb ich mich das Gesich leicht verziehend von dem Gemälde abwende, um einen Blick auf meinen Psychologen werfen zu können.
"Na, was schaust du denn so finster drein?", lächelt er mir charmant entgegen. Ein Drei-Tage-Bart ziert Wangen und Kinn, während mich warme, braune Augen aufmerksam mustern. Er ist mir ekelhaft symphatisch. Ich will mein Psychologen nicht mögen.
"Hallo? Du musst schon mit mir reden, sonst wird das nichts", erklärt er, wobei sein Lächeln etwas schief wird, ehe er unsicher hinzufügt: "Oder bist du gar nicht Julian? Tut mir leid, wenn ich dich verwechselt habe."
"Nein, schon in Ordnung. Ich bin Julian", bringe ich hervor, bevor er sich noch um Kopf und Kragen reden kann.
"Ah, das ist schön!", seufzt er erleichtert, gleich wieder etwas lauter, "Mein Name ist Heinrich, Heinrich Metzer. Komm doch rein!"
Er hält mir die Tür auf und sieht mich auffordernd an, weshalb ich langsam auf ihn zugehe. Irgendwie sieht er nicht wie ein Heinrich aus; Heinrichs sind wesentlich unattraktiver.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen, starre ihn regelrecht an. Er schenkt mir einen fragenden Blick - und ein prickelndes Feuer breitet sich schlagartig auf meinen Wangen auf. Sofort fixiere ich meine Füße. Die Hitze kriecht bis in die Spitze meiner Ohren.
Das habe ich grade nicht ernsthaft gedacht.
'Oh doch, das hast du', grinst er hämisch. Zischend hole ich zwischen aufeinader gepressten Zähnen Luft. Bloß nicht die Beherrschung verlieren.
Kannst du dich nicht mal entscheiden, ob du dich verziehst oder nicht?
'Jap, kann ich. Habe mich soeben umentschieden. Zufrieden?', flötet er sichtlich amüsiert. Ich will ihn schlagen.
"Julian?"
Möchtest du vielleicht mal kurz sichtbar werden?
'Ich denke gar nicht daran.'
"Julian?"
Genervt sehe ich auf - und der Schock, der mir in die Glieder fährt, als ich sein Gesicht so dicht vor meinem entdeckte, lässt mich wie von der Tarantel gestochen zurückschrecken.
"Oh, tut mir leid! Habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht, entschuldige! Du sahst bloß aus, als würdest du gleich ohnmächtig werden - oder sowas", klärt er mich hastig auf. Sein Zahnpastalächeln führt nicht gerade dazu, dass ich mich beruhige.
"Schon... okay...", würge ich gepresst hervor, während ich an ihm vorbei ins Behandlungszimmer gehe. Oder Therapiezimmer? Wie auch immer man das bei einem Psychologen eben nennt.
"Das freut mich! Weißt du, ich finde es wirklich toll, dass du dich entschieden hast, mit mir zu reden", plappert dieser Heinrich fröhlich los, während er mir folgt. Die Wände des Zimmers sind mit Kinderzeichnungen tapeziert.
"Dein Fall interessiert mich wirklich sehr. Mit sojemandem wie dir durfte ich mich nämlich noch nie unterhalten."
Desweiteren kann ich massig Kinderspielzeug ausmachen, das in Kisten gequetscht wurde, die sich zwischen Pflanzen befinden.
"Möchtest du dich setzen?"
In einer Ecke kann ich zwei große Gymnastikbälle ausmachen.
"Uh, Julian?", fragt er, weshalb ich ihm einen genervten Blick schenke. Mit leicht schiefgelegtem Kopf mustert er mich aufmerksam. Ich weiß; ich tue das hier nicht für mich, sondern für meine Familie. Ein triftiger Grund, es ernst zu nehmen, doch etwas in mir sträubt sich dagegen, das bis vor Kurzem noch schweigsam und zurückhaltend in einer Ecke meines Verstandes geruht hat. Jetzt ist es auf jeden Fall vollkommen erwacht.
"Setz dich, da!"
Verständnisvoll lächelnd, als wisse er genau, was in mir vorgeht - und das ist mir unheimlich -, zeigt er auf einen der zwei Ohrensessel, die als einziges inmitten des Raumes stehen. Er setzt sich auf den linken, ich nehme den rechten ein.
"Also, wie wäre es, wenn du mir als erstes erzählst, was mit dir los ist?"
"Ist ja nicht so, als hätten meine Eltern Ihnen nicht bereits die ganze Geschichte erzählt", erwider ich bissig.
'Wow, da hat aber jemand schlechte Laune. Ich dachte, du wolltest dir Mühe geben?'
Ich wollte nicht, ich will. Aber ich kann nicht. Das ist ein gravierender Unterschied.
"Natürlich, aber das ist ihre Version. Ich würde gern deine hören", erklärt er mir sich nach vorne lehnend und die Ellenbogen auf den gespreizten Knien ablegend, während seine ineinander verschlungenen Finger entspannt in der Mitte baumeln, "Also?"
"Warum sollte ich das einem Wildfremden erzählen?", bocke ich mich zurücklehnend, verschränke abwehrend die Unterarme vorm Brustkorb, was ihn enttäuscht aufseufzen lässt.
"Na gut, dann fange ich eben an. Mein Name ist Heinrich Metzer, wie du ja schon weißt. Ich bin 39 Jahre alt", - bei diesem Kommentar kann ich meine Kinndlade nicht davon abhalten, ein minimales Stück herunter zu klappen - ,"und Vater von zwei wunderhübschen Mädchen. Die Ältere heißt Angelika und ist zwölf Jahre alt. Die Kleine ist gerade einmal fünf Jahre alt; sie heißt Michele - und meine Frau ist momentan im neunten Monat schwanger, diesmal mit einem Jungen. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie stressig es bei mir momentan manchmal ist. Und wie sieht deine Situation aus?"
"Mein Name ist Julian Meier, wie Sie sicher schon wissen. Ich bin acht- äh, neunzehn Jahre alt und habe glücklicherweise weder Kinder noch Frau. Wird wahrscheinlich beides auch niemals was werden, da ich schwul bin", kläre ich ihn trocken auf. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, aber mit Sicherheit nicht diese offene, dankbare Lächeln.
'Du bist schwul?'
"Was?", hake ich unsicher auf meinem Stuhl herumrutschend nach, als er mich einfach so ansieht.
'Seit wann bist du offiziell schwul?'
"Ich freue mich, dass du ehrlich zu mir bist. Ich hatte schon einmal einen Patienten, der schwul war - und es hat eine Ewigkeit gedauert, bis er es mir gestanden hat."
"Meine Eltern haben es Ihnen wahrscheinlich eh schon gesagt", meine ich schulterzuckend, woraufhin er den Kopf schüttelt. Überrascht starre ich ihn an.
'Verdammt, hör auf, mich zu ignorieren!'
"Dieses Detail haben sie ausgelassen", lacht er leicht - und irgendwie entspanne ich mich etwas. Er ist mir tatsächlich symphatisch. Ätzend.
'Julian, das ist nicht nett', brodelt mein zweites Ich die Arme verschränkend, ehe er plötzlich vor mir erscheint, was mich erschrocken zusammenzucken lässt. Vorwurfsvoll und mit beleidigt hervorgeschobener Unterlippe starrt er mir direkt ins Gesicht.
"Alles in Ordnung?", fragt Heinrich besorgt.
"Ja, so halbwegs", antworte ich schief lächelnd einen Blick zu ihm herüber werfend, ehe ich mein anderes Ich wieder fixiere.
Du bist sehr schwer zu ignorieren, wenn du so vor mir stehst, weißt du das?
'Ist ja auch Sinn der Sache!', schnauft er die Hände in die Seiten stemmend und sich aufrichtend. Mit abschätzendem Blick sieht er zu dem Psychologen rüber, 'Wie wäre es, wenn du ihm einfach die Wahrheit sagst? Dann würde das alles hier wesentlich schneller voran gehen.'
"Hm, wenn du meinst", seufze ich augenrollen - und presse sofort die Lippen aufeinander, als mir klar wird, dass ich das gerade laut gesagt habe. Dementsprechend skeptisch sieht mich Heinrich auch gerade an, weshalb ich tief Luft hole, ehe ich ihm die ganze Geschichte erzähle.