Bourrin
Nachdem meine Geschichte ja doch Anklang gefunden hat, allerdings von vielen eine "Vorgeschichte" gewünscht wurde, habe ich mal weiter vorne in Johannas Leben angefangen. Außerdem wird der bereits exestierende Teil hier ausführlicher und überarbeitet gepostet, heißt, im Grunde eine vollkommen neue Geschichte mit gleichem Motiv. Besonderen Dank gilt hier vorallendingen headless von joelle.de, die mir immer mit Rat, Tat und unerschöpflicher Kreativität zur Seite steht. Danke dir <3
Und jetzt viel Spaß beim lesen
Prolog:
Der nasse Asphalt glänzt im Mondlicht. Stille hallt zwischen den verkommenen Häusern wieder und tut mir in den Ohren weh.
Du fragst dich, seit wann Stille hallt? Sie hallt schon immer. Sie flüstert, wispert, knistert. Verspricht, vergibt, hört zu. Du kannst ihr alles erzählen. Sie wird es sicherlich Anderen weitergeben, doch nur die, die den Mond aus Beton kennen, können sie auch wirklich verstehen.
„Hallo Swyrel.“ Die Stille flüchtet in die dunklen Schatten zwischen den Häusern. „Red nicht so laut, ich habe Kopfschmerzen“, bringe ich mühsam hervor und versuche mich aufzusetzen, wobei ich die Wodkaflasche neben mir umstoße. „Verflucht! Schau, was du angerichtet hast, Tommy!“, kommt es pfeifend zwischen meinen zusammengekniffenen Zähnen hervor. Tommy guckt besorgt. Ich hasse es, wenn er mich so anschaut. Dann werde ich ganz weich.
„Deine Augen, Swyrel.“
„Was ist mit denen?“
„Sie leuchten noch.“
„Was bringen mir leuchtende Augen? Ich brauche endlich Glück, Tommy.“
„Nein, du brauchst mich.“
„Du bist eingebildet.“
„Und du bist ein verdammter Dickschädel.“ Er läuft davon. ´Geh nicht, Tommy!`, flehe ich, doch er kann keine Gedanken lesen. Da sitze ich nun. Die Stille kommt wieder aus ihrem Schatten gekrochen und umfängt mich. Sie wispert und flüstert. Sie redet von Dingen, die ich nicht hören will. Mir wird klar, dass die Stille ein verdammt hinterlistiges Biest ist. „Verschwinde!“, schreie ich heiser, doch sie bleibt. Und wispert und flüstert immer weiter.
Ein Jahr zuvor…
„Johanna, dreh sofort leiser!“ Ich dachte ja gar nicht daran. „Johanna!“ Schritte wurden laut und meine Mutter riss wütend die Tür auf. „Dreh! leiser!“ Ich rührte mich keinen Zentimeter. Gelangweilt sah ich meine Mutter an, gähnte demonstrativ und schubste die Fernbedienung für meine neue Stereoanlage beiläufig mit dem Fuß quer durchs Zimmer auf sie zu. Doch anstatt sich zu bücken, zog sie kaltblütig den Stecker raus. Noch bevor ich protestieren konnte, packte sie meine Boxen und trug sie hinaus. Die Tür hinter ihr fiel schon fast sanft ins Schloss.
„Und mach nicht zu viel Müll“, lächelte meine Mutter. Sie wollte mir einen Kuss aufs Haar drücken, doch ich wich ihr aus. Meine Laune harmonierte perfekt mit dem scheußlichen Regen, der nun schon mehrere Tage ohne Unterbrechung anhielt und die unfreiwillige Entführung der Boxen seitens meiner Mutter besserte die ganze Misere kein Stück. Als meine Eltern aus dem Hof fuhren, sah ich ihnen stumm nach und auf einmal stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Sturmfrei!
Ich hatte nie darüber nachgedacht. Ich hätte nie daran geglaubt. Aber wer tat das schon? Täglich liest man davon in der Zeitung, und insgeheim denkt man sich: „Wie gut, dass es keinen von uns getroffen hat.“ Und man lächelt im Stillen und weiß mit der Sicherheit eines kleinen Menschenverstandes, dass es auch nie einen von den Seinigen erwischen wird. Und doch stand ich nun hier an ihrem Grab. Es herrschte das gleiche Wetter wie an jenem Tag, als ich die Beiden zum letzten Mal sah. Und ich las immer wieder ihre Namen, als könnte ich nicht glauben, dass sie fort waren.
Ich erwachte und fühlte mich…gut. Es war die erste Nacht seit dem Autounfall meiner Eltern, in der ich vollkommen traumlos und tief geschlafen hatte. Ich streckte mich leicht und gähnte, dann rutschte ich in eine andere Position und zog mir die Decke bis zum Kinn. Langsam schloss ich noch einmal die Augen und atmete tief aus. Und obwohl ich es noch nicht wusste, konnte ich es doch spüren: dieser Morgen war der Beginn meines neuen Lebens.
„Talentshow?“, hakte ich nach und sah meine Tante Lilian kauend an. „Und was soll ich da?“ In der Küche roch es leicht nach Weihrauch, nach frisch gebackenem Kuchen und Frühling. Draußen kreischten Kinder und durchsuchten die Gärten ihrer Häuser nach Osternestern. Auf den fernen Bergspitzen lag noch Schnee.
Nach dem Tod meiner Eltern war ich zu meiner Tante aufs Land gezogen. Die Umgebung war nett. Tante Lilian war nett. Mein neues Zimmer war nett. Die Nachbarn waren nett. Alles hier war so schrecklich nett. Und jeder kannte jeden.
„Na du singst doch so gerne. Und ich dachte…vielleicht…wäre das eine kleine Abwechslung für dich? Außerdem gibt es einen tollen Preis.“ Was interessierte mich der Preis? Mein Leben lag in einem riesigen Scherbenhaufen zu meinen Füßen. „Keine Lust.“ „Versuchs doch wenigstens!“ „Nein.“ „Johanna!“ „Nein!“ Ich stand auf und ließ mein halb aufgegessenes Brötchen bei meiner Tante zurück.
Oben im Flur stand ich vor dem überdimensionalen Kruzifix und sah es ausdruckslos an. Meine Tante war gläubig. Sie rannte jeden Sonntag in die Kirche. Waren meine Eltern auch gläubig gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Wir waren nie zusammen in die Kirche gegangen. Vermutlich roch es dort genauso wie in Tante Lilians Haus. Nur, dass statt dem Duft nach Kuchen ein leichter Geruch von Moder, unerfüllten Wünschen und verstummten Klagen die Stille der Kirche erfüllte. Ich beschloss, dass ich Kirchen nicht mochte. Oder hatte ich das schon bei der Beerdigung entschieden? Ich blieb noch lange so stehen, bis Tante Lilians leichtfüßige Schritte auf der Treppe laut wurden. Dann zog ich mich hastig in mein neues Zimmer zurück.
Blau in Blau.
„Hanna?“ Ich zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht. „Hanna!“ Johanna. Nicht Hanna. Das kleine Mädchen kam auf mich zugelaufen, ihr blondes, kinnlanges Haar wippte bei jedem Schritt. Um ihren Mund klebte getrocknetes Vanilleeis. Sie schob ihre kleine, klebrige Hand in meine und lachte. Ihre Zähne waren weiß, gerade und mit großen Abständen zwischen jedem einzelnen. „Hallo Hanna!“ 3 Jahre. Und im Sommer würde sie 4 werden. Das hatte sie mir ganz stolz erzählt. „Hallo Sanni.“ Ich ging weiter die Straße hinunter, Sanni hüpfte neben mir her. „Was hast du getut?“, fragte sie mit ihrer unbeschwerten Kinderstimme.
„Ich war einkaufen.“
„Kann ich mit zu dir?“
„Ja. Aber ich hab noch etwas zu tun, also kann ich nicht mit dir spielen.“
„Ich will auch nich spiel´n. Ich schau nur.“ Ich musste Widerwillen lächeln. „Na dann.“ Ich holte meine Schulsachen und setzte mich zu Sanni auf die Terrasse. Sanni war wie ein kleiner, anhänglicher Hund. Sie war gleich an meinem ersten Tag hier zu mir gekommen, hatte mich aus ihren dunkelbraunen Augen angeschaut und mich gefragt, warum ich so „traurig aussehen tut.“ Ich hatte sie nur angesehen, und plötzlich den Drang verspürt, diesem kleinen Mädchen alles zu erzählen. Aber ich sagte nur, dass meine Eltern fort gegangen wären. Sanni hatte mich aus wissenden Augen angesehen, vollkommen ernsthaft genickt und gesagt: „Das is nich gut.“ Dann bot sie mir ein kleines, rosa Brauseherz an und erzählte mir, dass Rosa ihre Lieblingsfarbe sei.
Seitdem war sie so etwas wie eine Freundin.
Jetzt kam sie zu mir, eine tote Ameise in der Hand. „Die kann nicht mehr laufen.“
„Nein, jetzt nicht mehr.“
„Die is zerbrochen, oda?“
Ich nickte. Ja, zerbrochen…Sanni sah die Ameise lange Zeit schweigend an, dann legte sie das kleine Insekt vorsichtig ins Gras. Sie warf den Kopf in den Nacken, winkte in den wolkenlos blauen Himmel und lief lachend über den Hof davon. Meine Augen folgten ihr, bis sie um die Biegung verschwand und ich dachte mir, was für ein seltsames Kind sie doch war. Meine Tante rief, dass das Abendessen fertig sei und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Schnell packte ich mein Schulzeug zusammen, und der bereitgelegte Block war immer noch unbeschrieben.
„Du hast dich mal wieder selbst übertroffen“, meinte ich und Lilian überhörte den leisen Anflug von Spott in meiner Stimme geflissentlich. „Es ist schließlich Ostersonntag.“ Ich sah Tante Lilian zu, wie sie die dampfende Pfanne auf den Tisch stellte und ließ das Wort „Ostern“ in Gedanken etwa hundertmal über meine Zunge rollen. Dann aßen wir schweigend. Es schmeckte nach Pappmasche. Nicht, weil Tante Lilian nicht kochen konnte. Sondern weil ich keinen Hunger hatte. Ich hatte nur Sehnsucht, ohne zu wissen nach was. In meinem Kopf war es ständig laut. Stimmen, Gedanken, Bilder schwirrten darin herum wie Fliegen über einem klebrigen, süßen Stück Torte und egal wie oft ich mit der Hand wedelte, sie kamen immer wieder. Am schlimmsten war es Nachts vorm Einschlafen. Dann sah ich die Gesichter meiner Eltern. Wenn sie lachten. Aßen. Redeten. Und wenn sie mir zu laut wurden, dann sang ich, um ihre toten Stimmen zu übertönen.
Wurde ich verrückt?
War ich verrückt?
Ich aß zu Ende, stellte meinen Teller in die Spüle und verließ wortlos die Küche. Ich spürte Lilians verletzten und zugleich besorgten Blick in meinem Rücken, aber ich konnte jetzt nichts sagen. Ich war vollauf mit den Fliegen in meinem Kopf beschäftigt.
Und jetzt viel Spaß beim lesen

Der Mond aus Beton
Leis´, mein Freund, mein Schatten,
weht dich der Wind hinfort,
ich werde auf dich warten,
an einem andren Ort.
Leis´, mein Freund, mein Schatten,
weht dich der Wind hinfort,
ich werde auf dich warten,
an einem andren Ort.
Prolog:
Der nasse Asphalt glänzt im Mondlicht. Stille hallt zwischen den verkommenen Häusern wieder und tut mir in den Ohren weh.
Du fragst dich, seit wann Stille hallt? Sie hallt schon immer. Sie flüstert, wispert, knistert. Verspricht, vergibt, hört zu. Du kannst ihr alles erzählen. Sie wird es sicherlich Anderen weitergeben, doch nur die, die den Mond aus Beton kennen, können sie auch wirklich verstehen.
„Hallo Swyrel.“ Die Stille flüchtet in die dunklen Schatten zwischen den Häusern. „Red nicht so laut, ich habe Kopfschmerzen“, bringe ich mühsam hervor und versuche mich aufzusetzen, wobei ich die Wodkaflasche neben mir umstoße. „Verflucht! Schau, was du angerichtet hast, Tommy!“, kommt es pfeifend zwischen meinen zusammengekniffenen Zähnen hervor. Tommy guckt besorgt. Ich hasse es, wenn er mich so anschaut. Dann werde ich ganz weich.
„Deine Augen, Swyrel.“
„Was ist mit denen?“
„Sie leuchten noch.“
„Was bringen mir leuchtende Augen? Ich brauche endlich Glück, Tommy.“
„Nein, du brauchst mich.“
„Du bist eingebildet.“
„Und du bist ein verdammter Dickschädel.“ Er läuft davon. ´Geh nicht, Tommy!`, flehe ich, doch er kann keine Gedanken lesen. Da sitze ich nun. Die Stille kommt wieder aus ihrem Schatten gekrochen und umfängt mich. Sie wispert und flüstert. Sie redet von Dingen, die ich nicht hören will. Mir wird klar, dass die Stille ein verdammt hinterlistiges Biest ist. „Verschwinde!“, schreie ich heiser, doch sie bleibt. Und wispert und flüstert immer weiter.
Ein Jahr zuvor…
„Johanna, dreh sofort leiser!“ Ich dachte ja gar nicht daran. „Johanna!“ Schritte wurden laut und meine Mutter riss wütend die Tür auf. „Dreh! leiser!“ Ich rührte mich keinen Zentimeter. Gelangweilt sah ich meine Mutter an, gähnte demonstrativ und schubste die Fernbedienung für meine neue Stereoanlage beiläufig mit dem Fuß quer durchs Zimmer auf sie zu. Doch anstatt sich zu bücken, zog sie kaltblütig den Stecker raus. Noch bevor ich protestieren konnte, packte sie meine Boxen und trug sie hinaus. Die Tür hinter ihr fiel schon fast sanft ins Schloss.
„Und mach nicht zu viel Müll“, lächelte meine Mutter. Sie wollte mir einen Kuss aufs Haar drücken, doch ich wich ihr aus. Meine Laune harmonierte perfekt mit dem scheußlichen Regen, der nun schon mehrere Tage ohne Unterbrechung anhielt und die unfreiwillige Entführung der Boxen seitens meiner Mutter besserte die ganze Misere kein Stück. Als meine Eltern aus dem Hof fuhren, sah ich ihnen stumm nach und auf einmal stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Sturmfrei!
Ich hatte nie darüber nachgedacht. Ich hätte nie daran geglaubt. Aber wer tat das schon? Täglich liest man davon in der Zeitung, und insgeheim denkt man sich: „Wie gut, dass es keinen von uns getroffen hat.“ Und man lächelt im Stillen und weiß mit der Sicherheit eines kleinen Menschenverstandes, dass es auch nie einen von den Seinigen erwischen wird. Und doch stand ich nun hier an ihrem Grab. Es herrschte das gleiche Wetter wie an jenem Tag, als ich die Beiden zum letzten Mal sah. Und ich las immer wieder ihre Namen, als könnte ich nicht glauben, dass sie fort waren.
Kapitel 1
Veränderungen…
Veränderungen…
Ich erwachte und fühlte mich…gut. Es war die erste Nacht seit dem Autounfall meiner Eltern, in der ich vollkommen traumlos und tief geschlafen hatte. Ich streckte mich leicht und gähnte, dann rutschte ich in eine andere Position und zog mir die Decke bis zum Kinn. Langsam schloss ich noch einmal die Augen und atmete tief aus. Und obwohl ich es noch nicht wusste, konnte ich es doch spüren: dieser Morgen war der Beginn meines neuen Lebens.
„Talentshow?“, hakte ich nach und sah meine Tante Lilian kauend an. „Und was soll ich da?“ In der Küche roch es leicht nach Weihrauch, nach frisch gebackenem Kuchen und Frühling. Draußen kreischten Kinder und durchsuchten die Gärten ihrer Häuser nach Osternestern. Auf den fernen Bergspitzen lag noch Schnee.
Nach dem Tod meiner Eltern war ich zu meiner Tante aufs Land gezogen. Die Umgebung war nett. Tante Lilian war nett. Mein neues Zimmer war nett. Die Nachbarn waren nett. Alles hier war so schrecklich nett. Und jeder kannte jeden.
„Na du singst doch so gerne. Und ich dachte…vielleicht…wäre das eine kleine Abwechslung für dich? Außerdem gibt es einen tollen Preis.“ Was interessierte mich der Preis? Mein Leben lag in einem riesigen Scherbenhaufen zu meinen Füßen. „Keine Lust.“ „Versuchs doch wenigstens!“ „Nein.“ „Johanna!“ „Nein!“ Ich stand auf und ließ mein halb aufgegessenes Brötchen bei meiner Tante zurück.
Oben im Flur stand ich vor dem überdimensionalen Kruzifix und sah es ausdruckslos an. Meine Tante war gläubig. Sie rannte jeden Sonntag in die Kirche. Waren meine Eltern auch gläubig gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Wir waren nie zusammen in die Kirche gegangen. Vermutlich roch es dort genauso wie in Tante Lilians Haus. Nur, dass statt dem Duft nach Kuchen ein leichter Geruch von Moder, unerfüllten Wünschen und verstummten Klagen die Stille der Kirche erfüllte. Ich beschloss, dass ich Kirchen nicht mochte. Oder hatte ich das schon bei der Beerdigung entschieden? Ich blieb noch lange so stehen, bis Tante Lilians leichtfüßige Schritte auf der Treppe laut wurden. Dann zog ich mich hastig in mein neues Zimmer zurück.
Blau in Blau.
„Hanna?“ Ich zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht. „Hanna!“ Johanna. Nicht Hanna. Das kleine Mädchen kam auf mich zugelaufen, ihr blondes, kinnlanges Haar wippte bei jedem Schritt. Um ihren Mund klebte getrocknetes Vanilleeis. Sie schob ihre kleine, klebrige Hand in meine und lachte. Ihre Zähne waren weiß, gerade und mit großen Abständen zwischen jedem einzelnen. „Hallo Hanna!“ 3 Jahre. Und im Sommer würde sie 4 werden. Das hatte sie mir ganz stolz erzählt. „Hallo Sanni.“ Ich ging weiter die Straße hinunter, Sanni hüpfte neben mir her. „Was hast du getut?“, fragte sie mit ihrer unbeschwerten Kinderstimme.
„Ich war einkaufen.“
„Kann ich mit zu dir?“
„Ja. Aber ich hab noch etwas zu tun, also kann ich nicht mit dir spielen.“
„Ich will auch nich spiel´n. Ich schau nur.“ Ich musste Widerwillen lächeln. „Na dann.“ Ich holte meine Schulsachen und setzte mich zu Sanni auf die Terrasse. Sanni war wie ein kleiner, anhänglicher Hund. Sie war gleich an meinem ersten Tag hier zu mir gekommen, hatte mich aus ihren dunkelbraunen Augen angeschaut und mich gefragt, warum ich so „traurig aussehen tut.“ Ich hatte sie nur angesehen, und plötzlich den Drang verspürt, diesem kleinen Mädchen alles zu erzählen. Aber ich sagte nur, dass meine Eltern fort gegangen wären. Sanni hatte mich aus wissenden Augen angesehen, vollkommen ernsthaft genickt und gesagt: „Das is nich gut.“ Dann bot sie mir ein kleines, rosa Brauseherz an und erzählte mir, dass Rosa ihre Lieblingsfarbe sei.
Seitdem war sie so etwas wie eine Freundin.
Jetzt kam sie zu mir, eine tote Ameise in der Hand. „Die kann nicht mehr laufen.“
„Nein, jetzt nicht mehr.“
„Die is zerbrochen, oda?“
Ich nickte. Ja, zerbrochen…Sanni sah die Ameise lange Zeit schweigend an, dann legte sie das kleine Insekt vorsichtig ins Gras. Sie warf den Kopf in den Nacken, winkte in den wolkenlos blauen Himmel und lief lachend über den Hof davon. Meine Augen folgten ihr, bis sie um die Biegung verschwand und ich dachte mir, was für ein seltsames Kind sie doch war. Meine Tante rief, dass das Abendessen fertig sei und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Schnell packte ich mein Schulzeug zusammen, und der bereitgelegte Block war immer noch unbeschrieben.
„Du hast dich mal wieder selbst übertroffen“, meinte ich und Lilian überhörte den leisen Anflug von Spott in meiner Stimme geflissentlich. „Es ist schließlich Ostersonntag.“ Ich sah Tante Lilian zu, wie sie die dampfende Pfanne auf den Tisch stellte und ließ das Wort „Ostern“ in Gedanken etwa hundertmal über meine Zunge rollen. Dann aßen wir schweigend. Es schmeckte nach Pappmasche. Nicht, weil Tante Lilian nicht kochen konnte. Sondern weil ich keinen Hunger hatte. Ich hatte nur Sehnsucht, ohne zu wissen nach was. In meinem Kopf war es ständig laut. Stimmen, Gedanken, Bilder schwirrten darin herum wie Fliegen über einem klebrigen, süßen Stück Torte und egal wie oft ich mit der Hand wedelte, sie kamen immer wieder. Am schlimmsten war es Nachts vorm Einschlafen. Dann sah ich die Gesichter meiner Eltern. Wenn sie lachten. Aßen. Redeten. Und wenn sie mir zu laut wurden, dann sang ich, um ihre toten Stimmen zu übertönen.
Wurde ich verrückt?
War ich verrückt?
Ich aß zu Ende, stellte meinen Teller in die Spüle und verließ wortlos die Küche. Ich spürte Lilians verletzten und zugleich besorgten Blick in meinem Rücken, aber ich konnte jetzt nichts sagen. Ich war vollauf mit den Fliegen in meinem Kopf beschäftigt.