TerraTX
A Brothers Story
If love is a thing to desire, your life is at it's edge.
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In life, there are different forms of love.
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If love is a thing to desire, your life is at it's edge.
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In life, there are different forms of love.
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Lustlos schmiss Kain die Apartmenttür hinter sich zu und kickte sich seine verfransten Chucks von den Füßen. Einer landete an der Wand, hinterließ einen dreckigen Abdruck, während der andere polternd Richtung Wohnzimmer flog. Sein Kopf schien bereits bei dieser kleinen Geräuschkulisse zu zerplatzen, während jeder einzelne seiner Muskeln schmerzte. Beinahe bereute er es, als er die lange Reise zu seinem Bett antrat, hielt es sogar für dumm, sich nicht einfach auf den Boden zu setzen und auf der Stelle einzuschlafen.
Auf seinem Weg kam er an der offenen Küchentür vorbei. Die schneeweiße Einrichtung wurde bloß von der Straßenlaterne erhellt, deren Licht schwach durch das hohe Fenster drang. Irgendwo waren sicherlich noch einige Medikamente, die sein Leben erleichtern konnten. Vorsichtig schlurfte er in den Raum hinein, spürte die ernüchternde Wirkung der kalten Fliesen unter seinen nackten Füßen, die etwas Leben in seiner Körper zurückschickte. Er nahm es widerwillig hin. Leben bedeutete das volle Ausmaß seiner letzen Aktion zu spüren - und darauf konnte er gut verzichten.
Das letzte Mal war das Tablettensortiment in einem Topf im Rondell gewesen, also hatte ein gewisser Jemand es mit Sicherheit wieder an einem neuen Ort versteckt. Erster Schrank. Zweiter Schrank. In seinem grauenvollen Zustand war er sich fast zu schade dafür, den obersten Schrank ganz rechts in der Ecke zu öffnen und in das oberste Fach zu sehen - doch er wurde fündig. Auf den Zehenspitzen stehend kramte er in dem Kästchen und zog eine Reihe von Schmerz- und Schlaftabletten hervor, die ihn sicherlich über die Nacht bringen würden. Vielleicht würde er an einer Überdosis sterben, auch kein Problem.
Gerade als er sich wieder richtig hinstellen wollte, stieß er vorsichtig mit seinem Bauch gegen eine Ablage. Die Kälte drang durch sein Hemd hindurch und jagte einen Schauer in die unteren Regionen seines Körpers. Es erinnerte ihn an die sanften, kühlen Finger des Mädchens, mit dem er vorhin seinen Spaß gehabt hatte. Wirklich schöne, große Brüste. Das war alles, woran er sich erinnern konnte. Er holte tief Luft, verdrängte die Erinnerung. Das Denken ließ nur seinen Kopf noch unzufriedener brummen.
"Kain, pack die Tabletten weg."
Erschrocken fuhr er herum und starrte in das Gesicht seines älteren Bruder, der mit vollkommener Gelassenheit im Türrahmen lehnte. Dennoch; Kain kannte seinen Bruder gut genug, um die Fassade zu durchschauen und zu wissen, dass es in dem anderen nur so vor Wut und Enttäuschung brodelte. Es war ihr alltägliches Spiel geworden, das er hin und wieder als einen Wettkampf ansah. Wer saß am längeren Hebel?
"Macht es dir seit neuem Spaß, mich auzuspionieren?", feixte er und versteckte die Tabletten in zwei geballten Fäusten.
"Ich spioniere nicht, ich stehe hier bloß ganz offensichtlich herum. Du hättest dich nur umdrehen müssen."
"Und du hättest nur ein Wort sagen müssen. Stehst doch sonst immer so darauf, dass wir uns schön brav und artig begrüßen", murrte er und stürmte an seinem Bruder vorbei aus der Küche. Eine schlechte Idee, auch wenn er sich nun in Sicherheit vor der zu erwartenden Diskusion fühlte. Er musste einfach in sein Zimmer kommen, die Tür zumachen und abschließen; dann hatte er seine Ruhe. Einen Fuß vor den anderen. Immer weiter. Die Schmerzen ignorieren.
"Wieso rennst du schon wieder weg? Und wo warst du? Die Schulleitung hat heute angerufen und gesagt, du wärst nicht dort gewesen."
Er spürte, wie Alex ihm hinterherlief, bemüht, seine ruhige Fassade beizubehalten - und scheiternd.
"Du enttäuschst mich wirklich nie", seuzfte er, legte eine Hand auf den Griff um das Tor zur schützenden Einsamkeit zu öffnen.
"Was?"
"Nichts."
"Also willst du nichts dazu sagen?"
War es ein Hauch von Verletzheit, die Kain aus Alex' Stimme heraushören konnte? So verzweifelt hatte er seinen Bruder schon lange nicht mehr erlebt.
"Ja, genau das will ich tun. Du hast es erfasst", antwortete er bloß genervt und verbarikadierte sich in seinem Zimmer.
Der Raum war dunkel und das Fenster stand weit offen, sodass der laue Nachtwind ihn sanft umschmeichelte. Einladend sah das Bett aus, dass so weich und wärmend davor stand. Er taumelte die letzten Schritte, während er sich seiner Müdigkeit immer mehr und mehr bewusst wurde. Vorsichtig setzte er sich, schluckte zwei Schmerztabletten. Dass jemand vor seiner Tür dagegen hämmerte und trat, bekam er kaum mit. Er schnappte Worte wie "Direktor", "Noten" und "Alokohol" auf.
Bei ihnen gab es nicht die Ruhe vor, sondern erste die Ruhe nach dem Sturm. Bald würde es so weit sein. Dann hätten sie ihren kleinen Machtkampf wieder ausgetragen, so wie jeden Abend, und das Leben würde unverändert weitergehen. Die Schmerztabletten zeigten bereits erste Wirkung, auch wenn es wahrscheinlich nur Einbildung war. Dennoch konnte er viel klarer hören, was jetzt auf der anderen Seite der Wand vor sich ging. Abgesehen davon, dass der leisere Tonfall seines Bruder ihn neugierig gemacht hatte.
"Ich will nur das beste für dich und ich weiß, dass ich es allein nicht mehr schaffe."
Schlaftablette eins.
"Du kennst doch Anna, die Rothaarige mit dem Baby. Ich habe mich lange mit ihr unterhalten und ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden."
Schlaftablette zwei.
"Kain, es ist nicht so, dass ich dich hasse. Wirklich nicht. Ich liebe dich, du bist mein Bruder. Aber ich muss dich auf ein Internat schicken."
Schlaftablette... Kain riss die Augen erschrocken auf und pfefferte die Tablette gegen die Wand, sodass sie in kleine Stücke zersplitterte. Er wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte, doch hätte er es eh nicht gekonnt. Kein einziger Schrei schaffte es über seine Lippen. Keine Beschimpfungen, keiner Verfluchungen. Nichts. Die Tatsache schien so entgültig und gleichzeitig unwirklich, dass er nicht wusste, was er tun sollte, außer still und steif ans Türblatt zu starren.
"Kain? Kain! Bist du noch da?"
Panik in der Stimme seines Bruder, dass er sich etwas angetan haben oder weggerannt sein könnte. Das war wohl, was von ihm erwartet wurde. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden stürzte Kain sich aus dem Fenster in das dichte Geäst der Eiche, die direkt davor stand. Ohne Halt fiel er und hörte nur noch das Reißen seiner Klamotten, als sie an den Ästen und Zweigen hängen blieben. Ein paar Mal drehte er sich; vollkommen unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ob Rettung oder Panik, nichts konnte er empfinden, außer diese verzweifelte Leere. Und vielleicht einen Hauch Verwirrung.
Ein kurzer freier Fall, dann holte die Härte des Bodens ihn wieder in die Realität zurück. Er hörte, wie seine Zimmertür eingetreten wurde und rechnete jeden Moment mit einem wütenden Schrei seines Bruder, doch nichts kam. Langsam schleppte er seinen tauben Körper auf die Beine, ehe er sich Richtung Tor bewegte. Dort angekommen verharrte er einen Moment, unschlüssig, wohin er gehen sollte. Doch das ließ sich später noch herauskriegen, denn er hörte, wie seine Tür eingetreten wurde.
Schmerzen drangen durch sein vernebeltes Bewusstsein, als er das Tor aufriss und losrannte. Er hörte das Rufen seines Bruder. Rannte weiter. Immer weiter, bis selbst der letzte Schrei verklungen war. Die Schilder an den Straßenecken kamen ihm vage bekannt vor. Hier war er vor einigen Tagen bereits gewesen. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, doch mehr als die Erinnerung von einem Haus hatte er nicht behalten. So begann er, genau dieses Haus zu suchen.
Die Müdigkeit erschlaffte seine Augenlider, bis er nur noch vage Umrisse in der verschwommenen Welt um ihn herum erkennen konnte. Unter seinen nackten Füßen spürte er die dumpfe Kälte, die in seine tauben Glieder hinaufkroch. Viel zu unempfindlich waren sie in diesem Moment, alsdass er selbst den größten Stein hätte spüren können. Ein Lächeln schlich sich auf seine bläulichen Lippen. So musste sich Freiheit anfühlen. Er schien nur noch ein Geist in der Ewigkeit, ohne Gespür für seinen fesselnden Körper und die verzweifelte Welt der Menschen um ihn herum.
Eine Stimme rief nach ihm und er spürte bereits das warme Licht des Himmels, das ihn erwarten würde, wenn die Pforten Gottes sich für ihn öffneten. Es prickelte auf seiner Haut, brachte wieder etwas Leben hinein. Kain blieb stehen und breitete seine Arme aus.
"Nimm mich, Herr Gott. Nimm mich zu dir", bot er sich selbst in einem Anfall von Euphorie an. Sein Augenmerk lag auf zwei Lichtkugeln, die sich langsam nährten. Sie brachten ein knatterndes Geräusch mit sich mit. Es kam näher und näher und Kain ging ein paar Schritte entgegen, um es genauer erkennen zu können.
Als das Auto an ihm vorbeiraste, sank er lachend zu Boden, während er das Gesicht in den Händen vergrub. Tränen liefen über seine Wangen, schmeckten salzig - und was er vorhin weder lachen noch weinen noch schreien konnte, das brach in diesem einen Augenblick Realität alles aus ihm heraus. Wie naiv war er eigentlich?
Erst einige Minuten später registrierte er die Hände, die an seinen Schultern rüttelten. In Trance rappelte er sich auf, ließ sich von den Händen leiten. Sie kamen an ein Haus, das Haus. Nun war seine Suche endlich vorbei. Als nächstes befanden sie sich in einem kleinen Wohnzimmer. Wie er den Weg von draußen nach drinnen geschafft hatte, wusste Kain nicht. Im nächsten Moment verschwand auch die Erinnerung an seine Verzweiflung, seinen Bruder, alles löste sich auf in eine Leere aus Taubheit. Er sah nur die Couch, auf die er sich setzte, ohne darüber nachzudenken, was genau er dort wollte. Seine Lider waren so schwer.