Startpost-Retter
Diese Kurzgeschichte habe ich vor einem knappen Monat geschrieben - für einen Schreibwettbewerb. Das Thema lautete '11 Sekunden' und darum ist der Titel dieses Textes einfach nur '11 Sekunden'.
P.S. Ich weiß, dass man alle Zahlen bis zwölf ausschreibt - aber in diesem Fall passte es mit der Zahl besser, da es mehr auffällt und sich eher einbrennt als das Wort 'elf'.
- 11 Sekunden
Mit leerem Blick starrte ich auf die zierliche Gestalt des Mädchens, welches dort vor mir unter der steifen Krankenhausdecke lag. Es war keine Fremde, es war nicht meine Freundin – nein, es war meine kleine Schwester, die dort regungslos vor mir lag. Ich spürte die Tränen, die siedendheiß über meine Wangen flossen, ehe sie eine nach der anderen in Richtung Boden fielen. Wie lange war es her, dass ich so geweint hatte? Hatte ich jemals so geweint? Ich konnte es in diesem Augenblick nicht sagen. Es war nur gut, dass mein Vater nicht da war, er hätte gesagt, dass Jungen nicht weinen sollten. Aber er war nicht da, er musste nicht mit ansehen, wie seine Tochter hier lag, alleine und scheinbar ohne zu bemerken, dass wir da waren.
Ich wagte es nicht, auch nur einen Augenblick zu meiner Mutter hinüber zu sehen, doch ich wusste, dass auch sie weinte. Sophie war immer der kleine Sonnenschein gewesen, egal was geschehen war, sie hatte immer gelacht und damit unsere Mutter und auch mich angesteckt. Und nun bewegte sie sich nicht einmal. Ich konnte es kaum glauben.
Wie von weit weg hörte ich, wie der Regen gegen die Scheiben prasselte, als ob der Himmel so wie wir weinen würde. Die Ärzte hatten gesagt, dass es unwahrscheinlich war, dass sie jemals wieder aufwachen würde, aber ich hielt nicht viel von dieser Aussage. Sophie hatte bisher immer gekämpft, egal, was geschehen war, sie war immer wieder hoch gekommen, mit einem Lächeln auf den Lippen. Und nun war ihr Gesicht ohne Ausdruck, man konnte nicht sehen, was in dem jungen Wesen vor sich ging. Ob es Schmerzen hatte oder ob es froh war, dass wir bei ihm waren. Nichts ließ darauf schließen, dass sie überhaupt wusste, dass wir da waren, dass wir uns um sie kümmerten, uns Sorgen machten.
Unterbewusst bekam ich mit, wie meine Mutter schluchzte, ich wusste, dass es sie fast noch härter traf als mich. Und doch... Ich überbrückte die Distanz zu der Frau, die innerhalb von Minuten um Jahre gealtert zu sein schien und griff ihre Hand. Ich wollte etwas sagen, etwas aufmunterndes, aber ich wusste nicht was. „Es wird alles wieder gut? Sie wird schon wieder auf die Beine kommen?“ Nein, das klang alles viel zu klischeehaft und ich glaubte ja selber nicht mehr daran. Nicht nachdem, was die Ärzte erzählt hatten.
Innerlich verfluchte ich diesen Autofahrer, der es gewagt hatte, meiner kleinen Schwester so etwas anzutun. Er war mit einem Schock davon gekommen, doch sie, sie lag nun hier und wir mussten trauern. Das Leben war einfach nicht fair – aber war es das jemals gewesen? Krieg, Terroranschläge und Morde. Nein, das Leben war nich fair – und doch hatte ich niemals daran gedacht, dass mir so etwas geschehen würde, dass uns so etwas passieren könnte. Ich hatte vieles erlebt in den 22 Jahren, die ich nun auf dieser Erde weilte und doch hatte mich nichts so sehr berührt wie dieser Moment. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es in nicht einmal einer Minute Mitternach sein würde.
„Ich hol uns etwas zu trinken“, sagte ich mit rauer, belegter Stimme zu der Frau neben mir und ging langsam in Richtung Tür. Ich hatte noch 22 Sekunden bis Mitternacht, als ich den Raum in der Intensivstation verließ um einen Becher Kaffee für meine Mutter und mich zu holen. Meine Schritte waren klein, ich wollte nicht weg und doch konnte ich nicht in dieser drückenden Stille bleiben. Sie war, als ob ein zu hoher Luftdruck mich zusammendrücken würde.
Der Automat war nur wenige Schritte entfernt, so dass ich alles mitbekam. Nur kurze Zeit später hörte ich einen spitzen Schrei meiner Mutter, ich sah, wie die Ärzte in das Zimmer rannten und fast schon automatisch glitt mein Blick zur Uhr. Instinktiv wusste ich, dass es bedeutete, dass sie gestorben ist, dass sie davon geglitten war. Es waren noch 11 Sekunden bis Mitternacht, noch 11 Sekunden bis zum 18. Geburtstag meiner kleinen Schwester. Der schon gefüllte Kaffeebecher glitt mir aus der Hand, fiel klirrend auf den Linoleumfußboden – doch ich hörte es nicht mehr. Meine Schritte trugen mich raus in den Regen und auf einer Bank sank ich weinend zusammen. Ich hatte meinen kleinen Sonnenschein 11 Sekunden zu früh alleine gelassen...
P.S. Ich weiß, dass man alle Zahlen bis zwölf ausschreibt - aber in diesem Fall passte es mit der Zahl besser, da es mehr auffällt und sich eher einbrennt als das Wort 'elf'.