Joa, ist halt nicht jedermanns Ding.
Danke trotzdem
ABSCHNITT ZWEI
Lutana sitzt im Wartezimmer und auch wenn sie nicht zum ersten Mal hier ist, fühlt sie sich unwohl wie immer. In dieser Klinik fühlt sie sich noch weiter von ihm entfernt und wenn sie die Augen schließt findet sie keine Lücke in der Mauer, durch die sie in seine Welt spähen kann. Hier, am Ort, wo man ihr eigentlich helfen sollte, fühlt sie sich elendiger und schlechter denn je.
"Frau Kuranostka bitte in Raum drei, Frau Kuranostka bitte in Raum drei." Hallt es dutzende Male durch die Lautsprecher und Doktor Ottfried weiß zurecht, weshalb er mehrmals durchrufen lässt, wer nun wohin gehen soll, denn im alltäglichen Chaos der Klinik ist schon so mancher Patient unter gegangen und hat seinen lebensrettenden Durchruf verpasst.
Schicksal, denkt Lutana, wenn sie sich über solche Menschen Gedanken macht und richtet sich auf. Der Schmerz in der Brust ist heute besonders deutlich spürbar, vielleicht wird sie nicht mehr lange leben. Vielleicht, jammert Lutana ganz leise, bin ich morgen nicht mehr da.
Mit dieser Angst zu leben ist nicht einfach, doch sie schafft es wie durch Geisterhand jeden Morgen aufzustehen und den Alltag zu meistern, der nur aus Nachdenken und Arztbesuchen besteht.
Früher war das anders, aber das jammern viele alte Menschen. Mit ihren 20 Jahren hat sie ihrer Ansicht nach ein Recht sich zu ihnen zu zählen.
Während ihre knochigen Füße über den Boden schlurfen, begleitet sie ein gewohntes Summen, das von ihren Haaren ausgeht und denen der anderen, die auch von den Kuranos abstammen.
Es sind weniger geworden, stellt sie jeden Besuch aufs Neue fest und zweifelt dadurch noch mehr an ihrer Existenz. Viele von ihnen werden es wohl nicht geschafft haben, viele von ihnen sind untergegangen, genau wie ich es einmal tun werde.
In den Zeiten, in denen sie das denkt, fühlt sie sich wie der oberste Pessimist.
Und als sie jetzt das Büro des Arztes betritt, fühlt sie sich klein, aber das ist Lutana inzwischen gewohnt. Auch die ignorante, teilweise sogar penetrante Art ihres Arztes ist für sie mittlerweile nichts besonderes mehr.
Es ist wohl alles nur eine Sache der Gewohnheit, genau wie mit dem Schmerz, der vergeht nie, aber man lernt mit ihm zu leben, murmelt sie in sich hinein und schielt unter ihren Haaren hindurch zu dem Schreibtisch, der verlassen in der Mitte des Raumes steht.
Die vertrocknete Blurama ist bereits gestorben, doch keiner hat sie entsorgt. Früher, erinnert sich Lutana, war sie noch lebendig und hat häufig mit ihr geredet, wenn Herr Ottfried noch irgendwo unterwegs war und sie dennoch schon in seinem Büro saß. Da war er anders gewesen, viel freier und er hat ihr jede Frage beantwortet. Es waren schöne Zeiten, Zeiten in denen sie ihr Schicksal vergaß, doch jetzt ist es vorbei und es bringt nichts hinter der Vergangenheit herzutrauern.
Lutana betrachtet die welken Blätter. Die Blurama sieht jetzt aus wie eine normale, vertrocknete Pflanze, doch zu ihren Lebzeiten war sie anders gewesen. Da war sie etwas besonderes gewesen und keiner hätte gewagt sie mit einer herkömmlichen Blume zu vergleichen.
"Oh, Lutana, schon wieder?" Herr Ottfried sieht auf und das Mädchen reißt ihren Blick von dem toten Wesen, das sie an sich selbst erinnert, fort. In ihr drinne ist auch alles vertrocknet und veraltet, aber das sieht keiner, außer sie selbst.
"Ja..." Murmelt sie undeutlich und macht einen Schritt auf den leeren Stuhl zu, der auf der anderen Seite des Schreibtisches steht, an dem der Doktor sitzt.
"Ja bitte, setze dich doch." Sie nimmt Platz, wie er es ihr angeboten hat und starrt auf die Tischkante. Es wirkt, als sei sie interessanter, als der Arzt, doch das ist dieser schon von Lutana gewohnt. Er kennt sie besser, als sie denkt und er versteht sie mehr, als sie sich vorstellen kann.
"Wie geht es dir?"
"Hmh." Murrt die Dunkelhaarige. Diese Standartfrage hat sie seit sämtlichen Sitzungen kein einziges Mal richtig beantworten. Bisher hatte sie immer ein banales 'Hmh' geäußert und Herrn Ottfried hatte das gereicht. Doch heute war nicht immer, heute gab er sich zum ersten Mal nicht zufrieden.
"Sage mir bitte wie es dir geht, sonst kann ich dir nicht helfen." Vermutlich, denkt der Doktor, wirke ich auf sie aufdringlich, aber was sie dann wiederum nicht begreift ist, dass ich ihr helfen möchte. Nicht einmal aus privater Interesse, sondern weil es mein Beruf ist. Ich helfe allen Menschen, egal ob mir einer sympathisch oder nicht, jeder ist auf gewisse Weise unverzichtbar.
"Mir geht es schlecht, ich muss sterben."
Diese Antwort hätte er nicht erwartet. Sein Mund verzieht sich. Für den Pessimismus sind Kuranos bekannt, aber Lutana übertrifft ihre Artgenossen, findet Ottfried.
"Du musst nicht sterben, Lutana. Vor dir liegen wahrscheinlich noch etliche Jahre, die du erleben wirst. Du solltest in die Zukunft positiver sehen."
"Welche Zukunft?" Haucht sie ihm entgegen und ehe er antworten kann, schneidet sie ihm schon das Wort ab.
"Ich werde sterben, Doktor Ottfried, sehr bald. Ich spüre es, von heute an bleibt mir nicht mehr viel Zeit."
Ihre Wort zerreißen sein Herz, doch nur bildlich gesehen, denn im Gegensatz zu ihr, bleibt sein Herz bei Emotionen unversehrt. Doch Lutanas nicht. Sie stirbt an ihrem Kummer, insofern er sich nicht irgendwie lindern lässt. Und das tut er nicht, sagt sie ihm gerade. Sie spürt, dass sie bald gehen muss und dennoch kämpft sie dagegen an.
Doktor Ottfried wagt sich nicht zu vermuten, wer gewinnen wird.
Ihr Herz oder ihr Kopf?
ABSCHNITT DREI
Als das Telefon klingelt, hebt Lutana nicht ab. Sie fühlt sich viel zu schwach, verlassen und schlecht. Die Sehnsucht nach ihm ist größer als je zuvor und trotzdem glüht noch ein Funken Hoffnung in ihr, weil sie weiß, dass es gleich soweit sein wird. Die viel zu kurzen Stunden, die andere Sekunden nennen, werden kommen und sie, Lutana, wird in seine himmelblauen Augen sehen können. Vielleicht wird sie die ein oder andere Wolke der Trauer darin erkennen können, wenn sie ihm erzählt, wie sie um ihre Existenz vermutet. Vielleicht wird er ihr nicht glauben, weil er es ebenso wenig wahrhaben will wie sie.
Dreißig Minuten später war es soweit. Ihr ganzer Körper bebt vor Anspannung. Sie kann es kaum erwarten ihn endlich wiederzusehen. Und dann erscheint er, räkelt sich plötzlich auf der anderen Seite ihres Bettes. Wunderschön wie eh und je, aber trotz seiner Schönheit scheint etwas auf ihm zu lasten, was sein seine auf sie positiv wirkende Aura beeinflusst.
"Du... bist da." Haucht Lutana dennoch freudenstrahlend und lächelt zaghaft. Es war schwer diese Gestik in ihrem Zustand zu äußern, doch für ihn hätte sie sogar die Sterne vom Himmel geholt, wenn er es nur verlangt hätte.
"Und du bist wunderschön, Lutana." Ein Zittern durchläuft ihren Körper, als er eine ihrer dunkelbraunen Strähnen hinter das linke Ohr streicht und sie dabei mit seinem sanften Blick fesselt. Die Tiefe seiner Augen erscheint ihr bodenlos, wenn sie hineinsieht und droht darin zu versinken.
"Ich muss mit dir reden, mein Liebster..."
"Es gebraucht keine Worte, dass ich dich verstehe. Ich bin immer bei dir, egal was auch geschieht, ich fühle dich und ich fühle deine Emotionen. Schweige, genieße diesen Augenblick..." Er legt seinen Finger auf ihre vollen Lippen und genießt mit geschlossenen Augen die Stille der Liebe, die sie einhüllt wie der Nebel eine Bergspitze.
Doch ob er wirklich versteht, dass Lutanas Leben sich dem Ende neigt? Und ob deren Vermutung überhaupt der Wahrheit entspricht oder nur aus einer Laune entstanden ist, die ebenso schnell wieder verfliegen kann, wie sie gekommen ist?
Der Sekundenzeiger rückt hämmungslos weiter, aber bisher ist er in Vergessenheit geraten und die beiden von Liebe erfüllten Körper haben auch nicht vor ihm in den kommenden Momenten jegliche Beachtung zu schenken.
Die Zeit ist ein Feind und wenn man ihn ignoriert, verliert er möglicherweise irgendwann das Interesse an dem Krieg. Aber kann man die Zeit mit einem Wesen vergleichen und dergleiches auf bei ihr anwenden?
"Bevor du mich wieder verlassen musst, was du tun wirst..." Er bringt sie durch einen liebevollen Blick zum Schweigen.
"Ich werde nie wieder gehen. Nie wieder."
An diesem Abend behielt er Recht. Er ging nie, er verließ sie nie. Doch diese Tatsache änderte nichts an ihrem Verschwinden, an dem Erlischen ihres Feuers, das in ihrem Herzen einst gebrannt hatte. Aber an jenem Abend zerfiel es zu Asche und mit dem Herz ging auch seine Liebe zu ihr. Er verlor sich in den endlosen Weiten des Realismuses, wurde von seinen eigenen Reuen überwältigt und noch viel mehr von der Sehnsucht, die er seither empfand. Denn durch das Ende seiner Geliebten nahm auch sein Leben den Weg in die Tiefe. Nur mit ihr an seiner Seite gab es etwas, was ihm Halt bot, aber sobald die Hand ihn an diesem Abend losließ, fiel er. Dennoch nicht gänzlich ohne sie. Er riss sie gedanklich mit sich in die Tiefe, genau wie sie es womöglich getan hätte. Denn ein gemeinsamer Sturz, lindert den Aufprall. Doch das Überleben ist dadurch nicht gesichert, auch bei ihnen nicht, denn selbst die mächtigste Liebe gibt einmal dem Schicksal nach. Das Schicksal ist und bleibt der Faustschlag, er reißt dich zu Boden, wenn du es am wenigsten erwartest, obwohl es deinem Unterbewusstsein längst klar ist, es schweigt, bis deinem Ich nichts anderes übrig bleibt, als es zu akzeptieren. Sich gegen das Schicksal zu wenden, bedeutet sein Testament zu schreiben.
ABSCHNITT VIER
Doktor Ottfried wird von einer schlechten und einer guten Nachricht begrüßt, als er am nächsten Tag die Zeitung aufschlägt. Ein vermisster Mann ist wieder aufgetaucht und eine Frau verstorben. Lutana. Seine Patientin, der er gestern keinen Glauben schenken mochte, ist von ihnen gegangen.
Ottfried weiß nicht, ob er sein gestriges Gerede bereuen oder es einfach so hinnehmen soll. Lutana kann ihm jetzt schließlich nichts mehr übel nehmen. Ob es verwerflich ist, Tote gleich in die hinterste Ecke zu schieben? Oder einfach nur normal?
Während der Arzt, der seine Pflicht verletzt hat und es dennoch nicht einsieht Reue zu zeigen, sein Frühstück verpeist und ungerührt die Todesanzeigen durchstöbert, wird am anderen Ende der Stadt eine Leiche im Boden versenkt.
Die Lider hat man über deren dunkelbraunen Augen gestülpt. Sie sieht ganz friedlich aus, wie sie jetzt schlummert, im inneren des Sarges. In ihrem Körper ist alles erloschen, kein Funken Hoffnung brennt mehr. Ihr Herz ist vollkommen aufgelöst, dort wo es einst seine Stelle gefunden hat, regt sich nichts mehr. Nur einzelne Partikel von Gewebe deuten jetzt noch an, dass dort einmal das lebenswichtige Organ seinen Ort gefunden hat.
"Wir werden Sie nie vergessen..." Der Priester leiert die üblichen Verse hinunter, doch unter den Gästen scheint keiner zu sein, der das bemängelt. Alle nehmen den Tod Lutanas so hin, haben nie ein besonderes Verhältnis zu ihr gehabt und sind einzig und allein des Rufes wegen erschienen.
Auf umso mehr Beerdigungen du gehst, umso liebenswürdiger erscheinst du deinen Mitbürgern. Ein Motto, das alle eingenommen hat, bis auf den jungen Mann, dessen Bild heute morgen in der Zeit gefunkelt hat.
Aufgetaucht, informiert der Artikel darunter, ein Mann, der seit 20 Jahren vermisst wurde, ist wieder gesichtet worden.
Und nun steht diese Legende hier, vergräbt die Hände im Eimer. Er will keinen Eindruck schinden, als er die Erde gefühlsvoll auf den Sarg wirft, obwohl das alle anderen vermuten. Sie spielen das Spiel, das keines ist, unaufgefordert mit. Ihre erstaunten Mimiken sind allesamt gekünstelt, die Tränen, die über ihre Wangen rinnen, machen einige von ihnen, gegenüber den anderen, zu professionellen Schauspielern. Weshalb sie ihr Glück nicht anderweitig ausleben, sondern sich auf Beerdigungen herumtreiben und unechte Gefühle vortäuschen, ist einfach zu beantworten und dennoch unverständlich, für einen ehrlich gebrüsteten Menschen, wie den, der nun vor dem Grab steht und mit leerem Blick auf den Sarg hinab starrt.
"Der Ruf bedeutet ihnen so viel, Lutana..." Wispert er in die Tiefe und spürt, wie ein Teil seines Herzens hofft, dass sie ihn hört.
"Durch dich bin ich gekommen und gleichzeitig gegangen... ein Leben ohne dich ist nicht lebenswert..." Keiner hört, was er spricht. Und wenn sie es getan hätten, hätte es womöglich jeder für die Verse eines Leien gehalten.
"Diesmal bin ich nicht gegangen, ich habe und werde dich nie verlassen. Einst, sagte ich zu dir, werde ich für immer bleiben. Dieses einst ist jetzt und obwohl du es nicht mit mir erleben kannst, hoffe ich doch, dass du mir vertraut hast. Ich hätte dich nie belügen können."
Er beugte sich vor, war gleichzeitig bereit sich seinem Schicksal zu beugen.
"Du bist wunderschön, meine Liebste, selbst der Tod wird deine Vollkommenheit niemals einholen."
Mit diesen Worten verschließt er sein Herz und seinen Kopf und öffnete beides seither nie mehr. Mit dem Auflösen Lutanas Herzens, verlor Estjano sein Bewusstsein und wird niemals erwachen, auch, weil er sich seinem Schicksal beugt.
Er erlebt ewiges Leben, das womöglich grausamer ist, als der Tod, denn ein Leben ohne Lutana, ist wie ein Leben ohne Herz.
Das Schicksal, es nimmt keine Rücksicht auf Verluste. Das Schicksal, es kann dein Freund und dein Feind sein und du bist gezwungen dich ihm zu beugen. Das Schicksal, ein unbesiegbarer Gegner.
THE ENDE