Izzy
1. Kapitel
Das 200ste Jahr
Sonntag, 22. Februar
Das 200ste Jahr
Sonntag, 22. Februar
6.44 Uhr
Sie hatten ihn schon vor mehreren Stunden umgebracht, aber er hatte noch einige Minuten zu leiden.
Jung und nackt lag er da, sein bleicher, vergifteter Leib hingestreckt auf dem feuchten Teppich. Die Folter um Mitternacht hatte ihn zu Fall gebracht, aber jetzt, da die Morgensonne durch ein Erkerfenster auf seinen nackten Hintern fiel, erwachte er aus seinem Koma. Als er die Augen öffnete, überkam ihn die schreckliche Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte.
Ich bin blind, dachte er, zu abgestumpft, um in Panik zu geraten. Er ordnete das Durcheinander seiner Glieder und setzte sich mühsam auf. Er berührte die Augenbinde, die steif von getrockneten Giften und seinen eigenen Absonderungen war. Und dann, als sich die Welt um ihn drehte, erinnerte er sich. Das Rennen. Die Zugabe. Die zahllosen Fäuste, die ihn bewusstlos schlugen. Die gnadenlosen Füße, die immer noch weiter traten.
Und die zeitlosen Reime, die auf ihn niederprasselten.
Aus Schmerz und aus Stolz, diesem ewigen Paar,
Wird die Treue geschmiedet auf immerdar
Stolz, begraben unter Schmerz. Die Treue, die nirgends zu finden war. Eine von Kerzen beschienene Welt aus Schlägen und Schatten und Stiefeln und Schrecken.
Und Befehlen.
Ihr seid die Schwachen, wir haben die Macht,
Drum setzt euch in Marsch, singt uns Lieder und lacht...
Die Beine marschierten, die Lippen murmelten. Der Hals würgte an einem Lied und an etwas Ekligem. Und der Magen erbrach alles wieder.
Ihr habt uns enttäuascht, doch wir woll'n euch verzeihn.
Kriecht auf Händen und Knien und leckt alles rein...
Hände und Knie rutschten über widerlichen Schleim.
Die Zunge leckte über den dreckigen Boden.
Jetzt stand er zitternd auf und lauschte auf eine ferne Stimme – seine und doch nicht seine -, die verworrene und jämmerliche Bruchstücke eines Verses sang, den er sonst im Schlaf beherrschte. „Bund… Schlund… Gesetzt… Netz… Schwäche…“ Seine Stimme versagte, und erschöpft sank er wieder zu Boden. Die klitschige Kälte des Teppichs erinnerte ihn daran, dass er nackt war.
Und warum.
Kommt wieder hoch, Jungs, es geht ins Quartier
Eines knallharten Bruders, der tritt wie ein Stier...
Tastend suchte er nach etwas Festem und fand eine glatte Strebe am Balkongeländer im ersten Stock des Verbindungshauses. Er sich wieder auf die Beine und legte die gebrochene Hand auf das Gelände, um sich abzustützen. Mit der gesunden Hand versuchte er vergeblich, den Knoten der Augenbinde zu lösen. Dann krallte er die Finger in das Tuch und zog es irgendwie nach unten übers Gesicht, bis es ihm lose um den Hals hing. Als er nach Atem ringend innehielt, hörte er hinter sich ein leises Geräusch, in dem er in klarem Zustand die verstohlene Bewegung eines Menschen erkannt hätte. Aber an diesem Morgen bestand seine Welt nur aus seinem eigenen versuchten Selbst. Er kam gar nicht auf die Idee, das Gehörte der Gegenwart und dem Willen eines anderen zuzuordnen.
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Würde mich über Verbesserungsvorschläge und Hinweise sehr freuen!