Blümchen
K a p i t e l . 4
D er nächste Tag sollte vieles mit sich bringen, unangenehmes und erleichterndes. Mit dem Gewissen, dass es der letzte Schultag vor den Sommerferien war, erwachte Noemie am Morgen, streckte sich minutenlang und rieb sich dann den Schlaf aus den Augen. Ihr linkes Knie schmerzte noch immer, doch inzwischen hatte sich eine feste Kruste gebildet, welche hauptsächlich aus geronnenem Blut bestand.
Der bunte Wecker mit dem herzlichen Gesicht lächelte ihr fröhlich zu und vor guter Laune strotzend erwiderte das dunkelhaarige Mädchen diese Gestik. Dabei schien es vollkommen egal zu sein, dass der Wecker kein Wesen war, welches ihre fröhliche Mimik beachtete und sich darüber freute. Für andere, das wusste Noemie, wäre es verwirrend gewesen, sie lächeln zu sehen, denn sonst tat sie es nie. Fast nie. Auch hier bestätigte, einmalwieder, die Ausnahme die Regel.
Aufgrund des pünktlichen Verlassens des Hauses, verpasste Noemie den Bus nicht und konnte sich auf dem Weg zur Haltestelle sogar ein wenig Zeit lassen.
Es wäre schön, könnte ich jetzt mit jemandem reden oder einfach nur zuhören. Ich hätte Zeit, würde mir diese nehmen und einfach ein Stück von Normalität erleben. Es wäre schön, aber es ist nicht real.
Dieser Gedanke durchstob sinnesgemäß ihren Kopf und ließ den Blick unklar werden, sodass sie sich nicht mehr auf den Weg konzentrierte. Zum Glück war dieser heute vollkommen leer und zur Haltestelle würde Noemie vermutlich auch im Tiefschlaf finden. Der Weg war in ihrem Kopf schon so fest vermerkt, dass sie sich gar keine großen Gedanken mehr darüber machen musste. Eines der Vorteile, die Schule beinahe regelmäßig zu besuchen.
Im Bus herrschte eine bedrückte Stimmung. Das Mädchen wunderte sich, dass kein Geschreie wie üblich herrschte, zumal sie es heute einmal hätte nachvollziehen können, denn schließlich war es der letzte Schultag und die Spannung auf die Sommerferien saß auch in dem dunkelhaarigen Mädchen tief, auch wenn sie nicht wusste, was sie mit 6 leeren, ungeplanten Wochen anfangen sollte. Vielleicht würde sie es einmal wagen ins Schimmbad zu gehen oder stundenlang in der Shisha bar sitzen und hoffen, zufälligerweise auf die jungen Männer des gestrigen Tages zu treffen. Wer wusste schon, was die Zukunft brachte?
"Hast du gehört, was passiert ist?" Durchschnitt das Mädchen vor Noemie leise und vorsichtig die Stille. "Ja, es ist schrecklich." Hingegnete ihre Nachbarin leise seufzend und ein Unterton tiefer Trauer war in ihrer Stimme zu hören. Noemie hatte stumm gelauscht und für Sekunden kam der Gedanke in ihr hoch, jemand wisse von ihr und ihrem Stiefvater, doch dann verwarf sie diese absurde Vermutung und kuschelte sich in den weichen Sitz des Buses. Egal was passiert war, wenn es den ganzen Bus am letzten Schultag schaffte, so in Schweigen zu hüllen, musste es etwas gravierendes sein, was sich mit Sicherheit schnell herum sprach und somit auch Noemie bald davon Wind bekommen würde.
Über Nacht schienen sich alle um 180° gewandelt zu haben. Alle Mienen waren leer und mit Trauer gefüllt. Die wenigen, die noch immer normal miteinander umgingen und lachend über den Schulhof tobten, schienen keine Ahnung von dem Geschehenen zu haben und ernteten strafende Blicke der Trauernden. Noemie hatte bisher auch keinen blassen Schimmer davon, was wohl passiert sein mochte, doch sie hatte ohnehin noch nie zu den lautstark plärrenden Kindern gehört, die sich gegenseitig Bälle zu warfen oder über andere im Flüsterton lästerten, gerade noch so laut, dass die Betroffenen es hörten und sich durch das dröhnende Lachen der Lästernden ausgelacht fühlen mussten.
Als die Dunkelhaarige die Tür des Haupteingangs öffnen wollte, hielt sie kurz inne und betrachtete einige Minuten den weißen Zettel, der an der durchsichtigen Scheibe hing.
Wie einige vielleicht gehört haben,
ist diese Nacht schreckliches geschehen.
Larissa K., welche die Klasse 10b besuchte,
ist bei einem tragischen Rollerunfall ums
Leben gekommen. Wir bitten alle in der
5. Stunde an der Trauerfeier teilzunehmen,
welche in der Aula stattfinden wird und
eine Möglichkeit geben soll, von diesem
lebensfrohem Menschen Abschied zu nehmen.
Leise las Noemie den Zettel zu Ende. Er war von dem Direktor verfasst worden, das erkannte man allein an der Formulierung. War es das, was alle so traurig und stumm stimmte? Würde man um Noemie etwa auch so sehr trauern? Es erschien ihr absurd. Leise seufzend wandte sie ihren Blick von dem Blatt, versuchte ihre Gedanken fortzuschließen und presste schließlich die Klinke der Tür herunter, um sie zu öffnen. Ihr war nie wirklich aufgefallen, dass die Klinke so kalt war oder drückte sie etwa in einer Form von Temperaturveränderung ihre Trauer über Larissa K.'s Tod aus?
Als Noemie ihre dumpfen Schritte auf dem Gang wiederhallen hörte, schien ihr alles unreal. Es war so kalt, viel kälter als sonst und alle Blicke waren leer, viel leerer als sonst. Der Todesfalls des Mädchens schien alle dazu zu verleiten, sich eine Philosophie des Lebens zurecht zu legen und vermutlich war es genau das, was sie so herunter zog. Es gab keinen wirklichen Sinn, der einem wie ein Schlag ins Gesicht traf, nach dem Motto: 'STOPP, HIER IST DER SINN. ALLES WOFÜR DU LEBST.' Das gab es einfach nicht, soviel war Noemie sich sicher, denn wenn jemand täglich Stunden damit verbrachte einen Kernpunkt zu finden, dann war es die Dunkelhaarige.
Die Stunden verliefen weiterhin stumm. Selbst die sonst so schrille Stimme der Englischlehrerin erschien gedämpfter als sonst und jedes Mal, wenn ihr Blick den Tisch der zweiten Reihe traf, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Es war kein weiter Sprung bis zu der Vermutung, dass Larissa dort ihren angestammten Platz, bis vor kurzem, in Beschlag genommen hatte. Doch die Betonung lag nun auf hatte, denn der rundliche Hintern des Mädchens, welcher für ein wenig Speck zuviel berüchtigt war, würde nie wieder auf dem Holzstuhl herumrutschen, weil die Angst vor dem anstehenden Vokabeltest so groß war.
Als die vierte Stunde geschlossen wurde, versammelten sich alle vor der Aula, welche zehn Minuten später geöffnet wurde. Der Saal war mit Blumen und Bildern geschmückt worden. Auf einigen sah man lachende Gesichter, auf anderen Larissa und ihre Freunde, die Grimassen schnitten oder die Verstorbene, mit trauerndem Gesicht auf einer Beerdigung. Es war ein erschreckender Gedanke, wenn man überlegte, dass Larissa selbst nun Mittelpunkt eines solchen Trauergeschehens sein würde. Sie hätte es bestimmt nie geglaubt, wenn man es ihr erzählt hätte. Noemie würde es nämlich auch nicht glauben, wenn man es ihr berichtete. Wer wollte schon gerne wahrhaben, dass das Ende um die Ecke lauerte? Oder besser, wer wusste es schon?
Mit der Zeit staute sich alles auf engstem Raum und es blieb kein Stuhl unbesetzt. Jeder starrte auf die Leinwand, welche auf der Bühne plaziert worden war. Egal ob mit oder ohne Sitzplatz, keiner wagte sich, über den gebotenen Komfort einen Kommentar zu verlieren. Vollkommen unüblich für die sonst so aufmüpfigen Schüler, die gewöhnlich jede Möglichkeit nutzten, sich gegen etwas aufzulehnen. Doch heute blieb alles still, bis die Klassenlehrerin der Verstorbenen das Mikrofon ergriff und sich ein leises, durch Boxen laut gemachtes, Seufzen in die Luft erhob und die Aufmerksamkeit aller Schüler und Lehrer auf sich zog.
"Heute ist der letzte Schultag, doch wir sind nicht zusammen gekommen, um dies zu feiern, sondern um Abschied zu nehmen."
Stille, fast wirkte es so, als traue sich niemand zu atmen.
"Abschied, von einem Menschen, der uns allen so viel bedeutet hat und viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Larissa K. war ein so lebensfrohes Kind, die vielen von uns ein Lachen auf die Lippen zauberte und genau deshalb möchte ich nochmals daraufhin weisen, dankbar für diese kostbaren Augenblicke und Erinnerungen zu sein."
Noemie wandte ihren Blick von der Bühne zu den Mitschülern, welche sich nun auf der Treppe tummelten. Sie hatten alle die Klasse des toten Mädchens besucht, das war inzwischen allen klar geworden. Aber dass sie es mit solch großer Fassung trugen, eine Mitschülerin und Freundin verloren zu haben und noch nicht in Tränen ausgebrochen waren, war selbst für Noemie bewundernswert. Jeder von ihnen musste sie gekannt haben, einige besser als andere, aber jeder einzelne hatte sie gekannt.
"Liebe Klasse 10b, kommt bitte auf die Bühne." Die Schüler setzten sich in Bewegung, bildeten einen Halbkreis auf der Bühne und blickten mit ernsten Mienen ins Publikum, welches diese gefrorenen Blicke bis auf Ausnahmen erwiederte.
"Wir haben zusammen ein kleines Gedicht erarbeitet, was wir Larissa gerne widmen möchten."
Alles verstummt, doch auch zuvor hatten nur die wenigstens sprachlichen Kontakt zu ihren Nachbarn aufgenommen.
"Warum du?
Warum so früh?
Warum solch ein lebensfreudiger Mensch
und nicht irgend so ein grieskrämiger?"
Eine Schülerin der 10b ka, langsam nach vorne, legte die Rose, welche sie in der linken Hand zusammen presste auf den weißen Tisch, der in der Mitte des Halbkreises stand. Dann las die Klassenlehrerin weiter, wobei man ihrer Stimme anhörte, dass sie das alles nicht kalt ließ. Im Gegenteil.
"Wir hatten dich so gern.
Du warst so ein toller Mensch,
hast immer gelacht, bildetest den Sonnenschein
unserer Klasse.
Warum? Warum ausgerechnet du?
Pause. Erneut trat ein Schüler vor, um eine Blume auf den Tisch zu betten. Nun waren es schon zwei. Zwei Objekte, die Trauer und Liebe zugleich ausdrücken. Und die Sehnsucht, die ihre Sender plagte, weil Larissa von ihnen gegangen war.
"Wir danken dir so sehr für die tollen Augenblicke,
die wir mit dir verbingen durften.
Aber trotzdem stehen da die Fragen,
die uns nachts nicht schlafen lassen.
Warum du, warum so früh?
Wieder entbehrte ein Mitschüler eine Rose, trat schweigend an den weißen Tisch und vollführte eine Gebärde des Nickens. Immer wieder geschah das gleiche Blumenablegen, während die Lehrerin das Gedicht, welches keine Reime beinhaltete, vorlaß und versuchte die eigenen Tränen zurück zu halten. Es fiel ihr sichtlich schwer die nötige Beherrschung aufzubringen, doch es gelang ihr, jede Zeile laut und deutlich vorzutragen, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.
Du warst so ein lebensfroher Mensch.
Du hattest noch dein ganzes Leben vor dir.
Wieso du, warum so ein netter Mensch?
Wir wissen nicht, was wir denken sollen,
wir wissen nicht, was wir fühlen sollen
oder wie wir jemals wieder in Ruhe leben sollen.
Denn da sind immer diese Fragen,
die Fragen warum.
Warum du? Warum so früh?
Du hattest dein ganzes Leben vor dir.
Keiner von uns hatte Zeit sich von dir zu verabschieden,
aber wir werden dich nie vergessen.
Du warst der Sonnenschein unserer Klasse,
du warst ein Freund und Begleiter
und eine Mitschülerin mit Herz.
Warum nur? Warum ausgerechnet ... du?
Jeder wurde von einem tiefen Schluchzer aus den Gedanken gerissen, ließ den von Tränen verschwommenen Blick von der Leinwand zu Larissas Lehrerin gleiten und alle Augen sahen, wie diese sich weinend fort drehte und somit versuchte ihre Tränen zu verbergen. Wie sollten sie reagieren? Es war unmöglich den Vorfall zu ignorieren, keiner konnte einfach stumm bleiben und dem Gedicht weiterhin andächtig lauschen. Denn wer sollte dieses vortragen? Welche sanfte Stimme sollte die hunderten Schüler auf den Stühlen und Stehplätzen in ihren Gedankenwegen begleiten?
Der Direktor trat unsicher von einem aufs andere Bein, doch dann regte sich etwas auf der Bühne. Eveline, Mitschülerin und beste Freundin Larissas, trat aus dem Halbkreis hervor und löste sich von der Masse. Ihr Gesicht war kreidebleich und die zuvor fein aufgetragene Wimperntusche rann über ihre Wangen hinweg. Sie bot den Anblick, den man von einer zutiefst Trauernden erwartete, doch ihr Blick verriet noch viel mehr, als unwahrscheinliche Sehnsucht nach ihrer Freundin und Verständnislosigkeit über das Geschehene. Denn dieser ließ noch erahnen, was sie nun vor hatte. Mit ihrem Schritt nach vorn, blieb das nun folgende keinem, aber auch keinem verborgen. Festen Ganges setzte sie sich in Bewegung, auf die Lehrerin zu, welche noch immer abgewandt des Publikums stand und erbärmlich wimmerte. Innerhalb von Sekunden war Eveline zu ihr hinüber geschnellt, legte ihre schmalen Hände auf ihre Schulter und drehte sie zu sich um. Auge in Auge standen sie sich gegenüber. Alles schwieg, keiner gab einen Ton von sich. Selbst die Weinenden bemühten sich darum, ihren Tränenfluss leise zu vollführen und starrten in die leeren und mitleidigen Mienen der beiden Mittelpunktpersonen. Die Art des Mitleids, welche ihnen in die markanten Gesichter geschrieben war, war eine eigenartige Form. Denn es galt nicht etwa sich selbst, sondern den anderen. Evelines galt ihrer Lehrerin und der dieser galt Eveline.
Noemie lächelte sanft, war nicht mehr Herr über ihre Emotionen, doch damit bildete sie keine Ausnahme, denn keiner schien mehr jegliche Kontrolle über Gefühlsausbrüche zu haben. Die Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie beobachtete, wie Schüler - und Lehrerin sich in den Armen lagen und gegenseitigen Trost spendeten, jeglicher Streit im Schulalltag vergessen zu sein schien. Es herrschte eine Harmonie, die die Dunkelhaarige so noch nie empfunden hatte. Das Gefühl von Sehnsucht und Trauer verband auf eine eigenartige Art und Weise und stärkte die Gemeinschaft, sodass Konkurenz außen vorblieb. Doch egal wie schön das Gefühl auch sein mochte, dass nun jeder mit dem anderen eine Einheit bildete und selbst der egoistischste Einzelkämpfer sich in die Masse gliederte, keiner schien dies über den Tod Larissas zu stellen.
Nach zwei Schulstunden löste sich das Gewimmel auf und der von Blumen überhäufte Tisch wurde von der Bühne geschoben, während selbst die letzten vertränten Augen zu trocknen begannen. Noemie gehörte zu den letzten, die den zuvor noch so gefüllten Raum verließen. Ihr Blick war inzwischen kaum klarer geworden und die Gedanken noch fast gleich benebelt. Sie beschloss, wenn sie wieder etwas zur Ruhe gekommen war, sich über das Vergangene Gedanken zu machen, das nun jedoch erst einmal in die Ferne zu schieben.
Blicklos trat sie aus der erhitzten, stickigen Aula auf den Schulgang und lauschte stumm auf die montonen Geräusche, die ihre Schritte wiedergaben. Die Decke und Wände warfen ein leichtes, kaum hörbares Echo zurück. Es dauerte nicht lange, da breitete sich der Haupteingang vor ihr aus. Noemie drückte gegen das kalte Eisen, um den linken Flügel zu öffnen und verschwand, noch immer mit leerem Blick, hinaus in die beißende Wärme. Im ersten Augenblick kam es ihr so vor, als bekomme sie keine Luft, doch innerhalb weniger Momente gewöhnte sich ihr Körper an das schwüle Klima und ließ Noemie wieder ihre Schritte ansetzen, die sie vom Schulhof hinunter, zu den Haltestellen brachten. Dort warteten schon alle, in beklommener, beinahe unheimlicher Stille, auf ihren Bus und drängten sich an die rot weiß gestreiften Absperrungen. Noemie gesellte sich nicht zu dem Gedränge und suchte sich einen Platz im Schatten eines Baumes. Sie entledigte sich ihres Ranzens und nutzte das Warten, sich wieder Klarheit über ihre Emotionen zu verschaffen. Die Trauerfeier musste sie ebenso mitgerissen haben, wie alle anderen, doch trotzdem konnte sich das Mädchen nicht vorstellen, dass sich nun alle so fühlten wie sie. Es war eigenartig, nicht Herr über Gefühle und Gedanken zu sein und wenn Noemie einmal ehrlich war, empfand sie es beinahe als erschreckend. Normalerweise war sie niemand, der sich anderen öffnete oder Gedanken nach außen hin zeigte, doch in dieser Trauerstunde waren ihre Versuche, sich zu verschließen, vergebens gewesen. Sie hatte keine Kontrolle mehr über Emotionen besessen und war gezwungen gewesen, den Tränen freien Lauf zu lassen. Als sie das tat, hatte sie keine Furcht verspürt und sich nicht einmal geschämt, in aller Öffentlichkeit Gefühle preis zu geben. Vielleicht hatten sie die anderen unbewusst unterstützt, indem sie es ihr gleich taten, doch Noemie war sich nicht sicher, ob sie es nicht auch ohne die anderen getan hätte, egal ob gewollt oder nicht. Möglich wäre es zumindest gewesen und damit hätte sie dann eine Ausnahme in der Masse gebildet. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre, wie die anderen auf ihre plötzliche Offenheit reagiert hätten. Vielleicht hätten sie gelacht und gehöhnt? Das Mädchen fertig gemacht und herunter geputzt? Noemie erschauderte und spürte, wie ihre Kehle bei diesem Gedanken auszutrocknen begann.
Plötzlich hieb ihr jemand den Arm in die Seite. Noemie schrak auf und machte einen Satz zur Seite. Entsetzt blickte sie dem hektisch davon stürmenden Jungen nach und bemerkte erst jetzt, dass ihr Bus bereits an der Haltestelle stand und beinahe alle Schüler darin verschwunden waren. Der Junge presste sich nun noch hinein und auch Noemie folgte ihm, in heimlicher Dankbarkeit, dass er sie vor dem Verpassen des Buses gerettet hatte. Wenn auch unbewusst.
Schweigend umfasste die Dunkelhaarige einen Haltegriff. Die Sitzplätze waren alle besetzt, denn heute hatte jeder zur gleichen Stunde Schulschuss gehabt. Die Heimfahrt verbrachte Noemie damit, sich in eine andere Welt zu befördern und eine gewisse Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es war nicht einfach, doch trotzdem schaffbar.
D er nächste Tag sollte vieles mit sich bringen, unangenehmes und erleichterndes. Mit dem Gewissen, dass es der letzte Schultag vor den Sommerferien war, erwachte Noemie am Morgen, streckte sich minutenlang und rieb sich dann den Schlaf aus den Augen. Ihr linkes Knie schmerzte noch immer, doch inzwischen hatte sich eine feste Kruste gebildet, welche hauptsächlich aus geronnenem Blut bestand.
Der bunte Wecker mit dem herzlichen Gesicht lächelte ihr fröhlich zu und vor guter Laune strotzend erwiderte das dunkelhaarige Mädchen diese Gestik. Dabei schien es vollkommen egal zu sein, dass der Wecker kein Wesen war, welches ihre fröhliche Mimik beachtete und sich darüber freute. Für andere, das wusste Noemie, wäre es verwirrend gewesen, sie lächeln zu sehen, denn sonst tat sie es nie. Fast nie. Auch hier bestätigte, einmalwieder, die Ausnahme die Regel.
Aufgrund des pünktlichen Verlassens des Hauses, verpasste Noemie den Bus nicht und konnte sich auf dem Weg zur Haltestelle sogar ein wenig Zeit lassen.
Es wäre schön, könnte ich jetzt mit jemandem reden oder einfach nur zuhören. Ich hätte Zeit, würde mir diese nehmen und einfach ein Stück von Normalität erleben. Es wäre schön, aber es ist nicht real.
Dieser Gedanke durchstob sinnesgemäß ihren Kopf und ließ den Blick unklar werden, sodass sie sich nicht mehr auf den Weg konzentrierte. Zum Glück war dieser heute vollkommen leer und zur Haltestelle würde Noemie vermutlich auch im Tiefschlaf finden. Der Weg war in ihrem Kopf schon so fest vermerkt, dass sie sich gar keine großen Gedanken mehr darüber machen musste. Eines der Vorteile, die Schule beinahe regelmäßig zu besuchen.
Im Bus herrschte eine bedrückte Stimmung. Das Mädchen wunderte sich, dass kein Geschreie wie üblich herrschte, zumal sie es heute einmal hätte nachvollziehen können, denn schließlich war es der letzte Schultag und die Spannung auf die Sommerferien saß auch in dem dunkelhaarigen Mädchen tief, auch wenn sie nicht wusste, was sie mit 6 leeren, ungeplanten Wochen anfangen sollte. Vielleicht würde sie es einmal wagen ins Schimmbad zu gehen oder stundenlang in der Shisha bar sitzen und hoffen, zufälligerweise auf die jungen Männer des gestrigen Tages zu treffen. Wer wusste schon, was die Zukunft brachte?
"Hast du gehört, was passiert ist?" Durchschnitt das Mädchen vor Noemie leise und vorsichtig die Stille. "Ja, es ist schrecklich." Hingegnete ihre Nachbarin leise seufzend und ein Unterton tiefer Trauer war in ihrer Stimme zu hören. Noemie hatte stumm gelauscht und für Sekunden kam der Gedanke in ihr hoch, jemand wisse von ihr und ihrem Stiefvater, doch dann verwarf sie diese absurde Vermutung und kuschelte sich in den weichen Sitz des Buses. Egal was passiert war, wenn es den ganzen Bus am letzten Schultag schaffte, so in Schweigen zu hüllen, musste es etwas gravierendes sein, was sich mit Sicherheit schnell herum sprach und somit auch Noemie bald davon Wind bekommen würde.
Über Nacht schienen sich alle um 180° gewandelt zu haben. Alle Mienen waren leer und mit Trauer gefüllt. Die wenigen, die noch immer normal miteinander umgingen und lachend über den Schulhof tobten, schienen keine Ahnung von dem Geschehenen zu haben und ernteten strafende Blicke der Trauernden. Noemie hatte bisher auch keinen blassen Schimmer davon, was wohl passiert sein mochte, doch sie hatte ohnehin noch nie zu den lautstark plärrenden Kindern gehört, die sich gegenseitig Bälle zu warfen oder über andere im Flüsterton lästerten, gerade noch so laut, dass die Betroffenen es hörten und sich durch das dröhnende Lachen der Lästernden ausgelacht fühlen mussten.
Als die Dunkelhaarige die Tür des Haupteingangs öffnen wollte, hielt sie kurz inne und betrachtete einige Minuten den weißen Zettel, der an der durchsichtigen Scheibe hing.
Wie einige vielleicht gehört haben,
ist diese Nacht schreckliches geschehen.
Larissa K., welche die Klasse 10b besuchte,
ist bei einem tragischen Rollerunfall ums
Leben gekommen. Wir bitten alle in der
5. Stunde an der Trauerfeier teilzunehmen,
welche in der Aula stattfinden wird und
eine Möglichkeit geben soll, von diesem
lebensfrohem Menschen Abschied zu nehmen.
Leise las Noemie den Zettel zu Ende. Er war von dem Direktor verfasst worden, das erkannte man allein an der Formulierung. War es das, was alle so traurig und stumm stimmte? Würde man um Noemie etwa auch so sehr trauern? Es erschien ihr absurd. Leise seufzend wandte sie ihren Blick von dem Blatt, versuchte ihre Gedanken fortzuschließen und presste schließlich die Klinke der Tür herunter, um sie zu öffnen. Ihr war nie wirklich aufgefallen, dass die Klinke so kalt war oder drückte sie etwa in einer Form von Temperaturveränderung ihre Trauer über Larissa K.'s Tod aus?
Als Noemie ihre dumpfen Schritte auf dem Gang wiederhallen hörte, schien ihr alles unreal. Es war so kalt, viel kälter als sonst und alle Blicke waren leer, viel leerer als sonst. Der Todesfalls des Mädchens schien alle dazu zu verleiten, sich eine Philosophie des Lebens zurecht zu legen und vermutlich war es genau das, was sie so herunter zog. Es gab keinen wirklichen Sinn, der einem wie ein Schlag ins Gesicht traf, nach dem Motto: 'STOPP, HIER IST DER SINN. ALLES WOFÜR DU LEBST.' Das gab es einfach nicht, soviel war Noemie sich sicher, denn wenn jemand täglich Stunden damit verbrachte einen Kernpunkt zu finden, dann war es die Dunkelhaarige.
Die Stunden verliefen weiterhin stumm. Selbst die sonst so schrille Stimme der Englischlehrerin erschien gedämpfter als sonst und jedes Mal, wenn ihr Blick den Tisch der zweiten Reihe traf, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Es war kein weiter Sprung bis zu der Vermutung, dass Larissa dort ihren angestammten Platz, bis vor kurzem, in Beschlag genommen hatte. Doch die Betonung lag nun auf hatte, denn der rundliche Hintern des Mädchens, welcher für ein wenig Speck zuviel berüchtigt war, würde nie wieder auf dem Holzstuhl herumrutschen, weil die Angst vor dem anstehenden Vokabeltest so groß war.
Als die vierte Stunde geschlossen wurde, versammelten sich alle vor der Aula, welche zehn Minuten später geöffnet wurde. Der Saal war mit Blumen und Bildern geschmückt worden. Auf einigen sah man lachende Gesichter, auf anderen Larissa und ihre Freunde, die Grimassen schnitten oder die Verstorbene, mit trauerndem Gesicht auf einer Beerdigung. Es war ein erschreckender Gedanke, wenn man überlegte, dass Larissa selbst nun Mittelpunkt eines solchen Trauergeschehens sein würde. Sie hätte es bestimmt nie geglaubt, wenn man es ihr erzählt hätte. Noemie würde es nämlich auch nicht glauben, wenn man es ihr berichtete. Wer wollte schon gerne wahrhaben, dass das Ende um die Ecke lauerte? Oder besser, wer wusste es schon?
Mit der Zeit staute sich alles auf engstem Raum und es blieb kein Stuhl unbesetzt. Jeder starrte auf die Leinwand, welche auf der Bühne plaziert worden war. Egal ob mit oder ohne Sitzplatz, keiner wagte sich, über den gebotenen Komfort einen Kommentar zu verlieren. Vollkommen unüblich für die sonst so aufmüpfigen Schüler, die gewöhnlich jede Möglichkeit nutzten, sich gegen etwas aufzulehnen. Doch heute blieb alles still, bis die Klassenlehrerin der Verstorbenen das Mikrofon ergriff und sich ein leises, durch Boxen laut gemachtes, Seufzen in die Luft erhob und die Aufmerksamkeit aller Schüler und Lehrer auf sich zog.
"Heute ist der letzte Schultag, doch wir sind nicht zusammen gekommen, um dies zu feiern, sondern um Abschied zu nehmen."
Stille, fast wirkte es so, als traue sich niemand zu atmen.
"Abschied, von einem Menschen, der uns allen so viel bedeutet hat und viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Larissa K. war ein so lebensfrohes Kind, die vielen von uns ein Lachen auf die Lippen zauberte und genau deshalb möchte ich nochmals daraufhin weisen, dankbar für diese kostbaren Augenblicke und Erinnerungen zu sein."
Noemie wandte ihren Blick von der Bühne zu den Mitschülern, welche sich nun auf der Treppe tummelten. Sie hatten alle die Klasse des toten Mädchens besucht, das war inzwischen allen klar geworden. Aber dass sie es mit solch großer Fassung trugen, eine Mitschülerin und Freundin verloren zu haben und noch nicht in Tränen ausgebrochen waren, war selbst für Noemie bewundernswert. Jeder von ihnen musste sie gekannt haben, einige besser als andere, aber jeder einzelne hatte sie gekannt.
"Liebe Klasse 10b, kommt bitte auf die Bühne." Die Schüler setzten sich in Bewegung, bildeten einen Halbkreis auf der Bühne und blickten mit ernsten Mienen ins Publikum, welches diese gefrorenen Blicke bis auf Ausnahmen erwiederte.
"Wir haben zusammen ein kleines Gedicht erarbeitet, was wir Larissa gerne widmen möchten."
Alles verstummt, doch auch zuvor hatten nur die wenigstens sprachlichen Kontakt zu ihren Nachbarn aufgenommen.
"Warum du?
Warum so früh?
Warum solch ein lebensfreudiger Mensch
und nicht irgend so ein grieskrämiger?"
Eine Schülerin der 10b ka, langsam nach vorne, legte die Rose, welche sie in der linken Hand zusammen presste auf den weißen Tisch, der in der Mitte des Halbkreises stand. Dann las die Klassenlehrerin weiter, wobei man ihrer Stimme anhörte, dass sie das alles nicht kalt ließ. Im Gegenteil.
"Wir hatten dich so gern.
Du warst so ein toller Mensch,
hast immer gelacht, bildetest den Sonnenschein
unserer Klasse.
Warum? Warum ausgerechnet du?
Pause. Erneut trat ein Schüler vor, um eine Blume auf den Tisch zu betten. Nun waren es schon zwei. Zwei Objekte, die Trauer und Liebe zugleich ausdrücken. Und die Sehnsucht, die ihre Sender plagte, weil Larissa von ihnen gegangen war.
"Wir danken dir so sehr für die tollen Augenblicke,
die wir mit dir verbingen durften.
Aber trotzdem stehen da die Fragen,
die uns nachts nicht schlafen lassen.
Warum du, warum so früh?
Wieder entbehrte ein Mitschüler eine Rose, trat schweigend an den weißen Tisch und vollführte eine Gebärde des Nickens. Immer wieder geschah das gleiche Blumenablegen, während die Lehrerin das Gedicht, welches keine Reime beinhaltete, vorlaß und versuchte die eigenen Tränen zurück zu halten. Es fiel ihr sichtlich schwer die nötige Beherrschung aufzubringen, doch es gelang ihr, jede Zeile laut und deutlich vorzutragen, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.
Du warst so ein lebensfroher Mensch.
Du hattest noch dein ganzes Leben vor dir.
Wieso du, warum so ein netter Mensch?
Wir wissen nicht, was wir denken sollen,
wir wissen nicht, was wir fühlen sollen
oder wie wir jemals wieder in Ruhe leben sollen.
Denn da sind immer diese Fragen,
die Fragen warum.
Warum du? Warum so früh?
Du hattest dein ganzes Leben vor dir.
Keiner von uns hatte Zeit sich von dir zu verabschieden,
aber wir werden dich nie vergessen.
Du warst der Sonnenschein unserer Klasse,
du warst ein Freund und Begleiter
und eine Mitschülerin mit Herz.
Warum nur? Warum ausgerechnet ... du?
Jeder wurde von einem tiefen Schluchzer aus den Gedanken gerissen, ließ den von Tränen verschwommenen Blick von der Leinwand zu Larissas Lehrerin gleiten und alle Augen sahen, wie diese sich weinend fort drehte und somit versuchte ihre Tränen zu verbergen. Wie sollten sie reagieren? Es war unmöglich den Vorfall zu ignorieren, keiner konnte einfach stumm bleiben und dem Gedicht weiterhin andächtig lauschen. Denn wer sollte dieses vortragen? Welche sanfte Stimme sollte die hunderten Schüler auf den Stühlen und Stehplätzen in ihren Gedankenwegen begleiten?
Der Direktor trat unsicher von einem aufs andere Bein, doch dann regte sich etwas auf der Bühne. Eveline, Mitschülerin und beste Freundin Larissas, trat aus dem Halbkreis hervor und löste sich von der Masse. Ihr Gesicht war kreidebleich und die zuvor fein aufgetragene Wimperntusche rann über ihre Wangen hinweg. Sie bot den Anblick, den man von einer zutiefst Trauernden erwartete, doch ihr Blick verriet noch viel mehr, als unwahrscheinliche Sehnsucht nach ihrer Freundin und Verständnislosigkeit über das Geschehene. Denn dieser ließ noch erahnen, was sie nun vor hatte. Mit ihrem Schritt nach vorn, blieb das nun folgende keinem, aber auch keinem verborgen. Festen Ganges setzte sie sich in Bewegung, auf die Lehrerin zu, welche noch immer abgewandt des Publikums stand und erbärmlich wimmerte. Innerhalb von Sekunden war Eveline zu ihr hinüber geschnellt, legte ihre schmalen Hände auf ihre Schulter und drehte sie zu sich um. Auge in Auge standen sie sich gegenüber. Alles schwieg, keiner gab einen Ton von sich. Selbst die Weinenden bemühten sich darum, ihren Tränenfluss leise zu vollführen und starrten in die leeren und mitleidigen Mienen der beiden Mittelpunktpersonen. Die Art des Mitleids, welche ihnen in die markanten Gesichter geschrieben war, war eine eigenartige Form. Denn es galt nicht etwa sich selbst, sondern den anderen. Evelines galt ihrer Lehrerin und der dieser galt Eveline.
Noemie lächelte sanft, war nicht mehr Herr über ihre Emotionen, doch damit bildete sie keine Ausnahme, denn keiner schien mehr jegliche Kontrolle über Gefühlsausbrüche zu haben. Die Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie beobachtete, wie Schüler - und Lehrerin sich in den Armen lagen und gegenseitigen Trost spendeten, jeglicher Streit im Schulalltag vergessen zu sein schien. Es herrschte eine Harmonie, die die Dunkelhaarige so noch nie empfunden hatte. Das Gefühl von Sehnsucht und Trauer verband auf eine eigenartige Art und Weise und stärkte die Gemeinschaft, sodass Konkurenz außen vorblieb. Doch egal wie schön das Gefühl auch sein mochte, dass nun jeder mit dem anderen eine Einheit bildete und selbst der egoistischste Einzelkämpfer sich in die Masse gliederte, keiner schien dies über den Tod Larissas zu stellen.
Nach zwei Schulstunden löste sich das Gewimmel auf und der von Blumen überhäufte Tisch wurde von der Bühne geschoben, während selbst die letzten vertränten Augen zu trocknen begannen. Noemie gehörte zu den letzten, die den zuvor noch so gefüllten Raum verließen. Ihr Blick war inzwischen kaum klarer geworden und die Gedanken noch fast gleich benebelt. Sie beschloss, wenn sie wieder etwas zur Ruhe gekommen war, sich über das Vergangene Gedanken zu machen, das nun jedoch erst einmal in die Ferne zu schieben.
Blicklos trat sie aus der erhitzten, stickigen Aula auf den Schulgang und lauschte stumm auf die montonen Geräusche, die ihre Schritte wiedergaben. Die Decke und Wände warfen ein leichtes, kaum hörbares Echo zurück. Es dauerte nicht lange, da breitete sich der Haupteingang vor ihr aus. Noemie drückte gegen das kalte Eisen, um den linken Flügel zu öffnen und verschwand, noch immer mit leerem Blick, hinaus in die beißende Wärme. Im ersten Augenblick kam es ihr so vor, als bekomme sie keine Luft, doch innerhalb weniger Momente gewöhnte sich ihr Körper an das schwüle Klima und ließ Noemie wieder ihre Schritte ansetzen, die sie vom Schulhof hinunter, zu den Haltestellen brachten. Dort warteten schon alle, in beklommener, beinahe unheimlicher Stille, auf ihren Bus und drängten sich an die rot weiß gestreiften Absperrungen. Noemie gesellte sich nicht zu dem Gedränge und suchte sich einen Platz im Schatten eines Baumes. Sie entledigte sich ihres Ranzens und nutzte das Warten, sich wieder Klarheit über ihre Emotionen zu verschaffen. Die Trauerfeier musste sie ebenso mitgerissen haben, wie alle anderen, doch trotzdem konnte sich das Mädchen nicht vorstellen, dass sich nun alle so fühlten wie sie. Es war eigenartig, nicht Herr über Gefühle und Gedanken zu sein und wenn Noemie einmal ehrlich war, empfand sie es beinahe als erschreckend. Normalerweise war sie niemand, der sich anderen öffnete oder Gedanken nach außen hin zeigte, doch in dieser Trauerstunde waren ihre Versuche, sich zu verschließen, vergebens gewesen. Sie hatte keine Kontrolle mehr über Emotionen besessen und war gezwungen gewesen, den Tränen freien Lauf zu lassen. Als sie das tat, hatte sie keine Furcht verspürt und sich nicht einmal geschämt, in aller Öffentlichkeit Gefühle preis zu geben. Vielleicht hatten sie die anderen unbewusst unterstützt, indem sie es ihr gleich taten, doch Noemie war sich nicht sicher, ob sie es nicht auch ohne die anderen getan hätte, egal ob gewollt oder nicht. Möglich wäre es zumindest gewesen und damit hätte sie dann eine Ausnahme in der Masse gebildet. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre, wie die anderen auf ihre plötzliche Offenheit reagiert hätten. Vielleicht hätten sie gelacht und gehöhnt? Das Mädchen fertig gemacht und herunter geputzt? Noemie erschauderte und spürte, wie ihre Kehle bei diesem Gedanken auszutrocknen begann.
Plötzlich hieb ihr jemand den Arm in die Seite. Noemie schrak auf und machte einen Satz zur Seite. Entsetzt blickte sie dem hektisch davon stürmenden Jungen nach und bemerkte erst jetzt, dass ihr Bus bereits an der Haltestelle stand und beinahe alle Schüler darin verschwunden waren. Der Junge presste sich nun noch hinein und auch Noemie folgte ihm, in heimlicher Dankbarkeit, dass er sie vor dem Verpassen des Buses gerettet hatte. Wenn auch unbewusst.
Schweigend umfasste die Dunkelhaarige einen Haltegriff. Die Sitzplätze waren alle besetzt, denn heute hatte jeder zur gleichen Stunde Schulschuss gehabt. Die Heimfahrt verbrachte Noemie damit, sich in eine andere Welt zu befördern und eine gewisse Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es war nicht einfach, doch trotzdem schaffbar.