Kapitel III
Noemie lässt sich auf einer Parkbank nieder und beugt sich etwas nach vorn um ihre aufgeschlagenen Knie zu beäugen. Eine leichte Kruste hat sich wie eine heilende Hand über die blutige Wunde gelegt. Der Schmerz ist zwar noch immer da, doch nun in erträglicher Weise, wobei er auch zuvor nicht zum Sterben schlimm gewesen war. Als die linke Hand gerade über die frische Blutkruste streichen will, vernimmt der Gehörsinn des Mädchens plötzlich laute Schritte auf Asphalt. Sie scheinen nicht regelmäßig zu sein und genau dadurch wirken sie auf sie in irgendeiner Weise anziehend, denn nun hebt sich ihr Blick und die Augen suchen mehr oder minder neugierig den Gehweg ab. Eine Gestalt nur in schwarz gekleidet schiebt sich gerade an ihr vorbei. Das Gesicht hat er zur Hälfte in einem braunen Schal vergraben und so sticht nur ein Hauch von seiner blassen Haut ans Licht. Seine Augen kann Noemie nicht erkennen, denn der Kopf ist so geneigt, dass es alles zu vergraben scheint, was er an Menschlichkeit ausstrahlen könnte. Zumal verdecken dichte schwarze Wimpern die Sicht und die Augenbrauen wuchern überhalb der Nase beinahe zusammen.
"Entschuldigen sie, wieviel Uhr ist es?" Die Dunkelhaarige lächelt leicht und weiß dennoch genau, dass sie ihn nur anspricht, damit sie sein Gesicht sehen kann. Auf irgendeine unbeschreibliche Weise reizt sie sein Gang, doch ebenso möchte sie die vom Schal begrabene Hälfte sehen und da Noemie vermutet, dass er nach dem Aufblicken ohnehin weitergehen würde, hätte sie weder das eine, noch das andere verpasst. Und tatsächlich, der junge Mann blickt sie aus grünen Augen an, zuckt jedoch nur mit den Schultern. "Sie haben da doch eine Uhr." Stochert das Kind erneut und überschlägt die Beine. Ihr ist kalt, doch sie hat wenig Hoffnung, dass ihr mit dieser Beinstellung viel wärmer sein wird. "Na und." Er will sein Gesicht wieder im Schal vergraben, doch irgendwie scheint er ebenso von Noemie's Anblick gefesselt wie diese selbst. "Ich muss doch nur die Uhrzeit wissen." Bemüht sie sich erneut und streift die Jeans über ihre blutigen Beine, dies lässt auch den Mann wieder zu sich kommen, denn er wirft tatsächlich einen Blick auf seine kleine, leicht silbrig schimmernde Uhr. Dann zuckt er mit den Schultern. "Die geht nicht. Was hast du da gemacht?" Er nickt mit dem Kopf in die Richtung ihrer verletzten Knie, doch die Dunkelhaarige scheint nicht darauf eingehen zu wollen. "Nichts." "Aha." Meint er daraufhin nur und will sich gerade umdrehen, als das Mädchen erneut das Wort ergreift. "Wo willst du denn hin?" Wieso sie plötzlich solch Mut gefasst hat und woher dieser stammt, weiß das Kind selbst nicht, doch eines steht fest und zwar, dass sie nicht länger hier im Regen sitzen will und in Selbstmitleid versinken. "Rüber zur Bar." Das Mädchen nickt, steht langsam auf, woraufhin seine Augen sich zu Schlitzen verformen. "Das ist nichts für kleine Kinder." Sie zuckt nur mit den Schultern und legt den Kopf dann in den Nacken. Das nasse Haar rutscht über ihre Jacke und lässt vereinzelte Tropfen auf den Teerweg perlen.
Der Junge toleriert ihre Gestik und scheint nun auch wieder vollkommen auf sich gestellt, denn sein Gesicht vergräbt sich wieder in dem Schal. Die Schritte beginnen erneut zu walten, noch immer in ungleichem Takt. Noemie weiß nicht wieso, doch irgendwie hat sie Vertrauen in die Sache gefasst.
Er tritt in einen verqualmtem Raum, nickt einigen Bekannten zu und wirft dann tatsächlich einen Blick zu Noemie. "Ich weiß nicht, ob du weißt, was du dir hier antust." Doch diese zuckt nur mit den Schultern, weiß genau, dass nichts schlimmer sein kann als der Alltag. Vollkommen unmöglich, dass dies übertroffen werden konnte.
Das dunkelhaarige Mädchen folgt dem Jungen Richtung Sitzecke, in welcher sich dieser letztendlich auch niederlässt und das Kind nun vollkommen beachtlos stehen lässt. Diese jedoch sucht sich einen Platz neben ihm, schweigt und starrt in die Hülle des Raumes, welche beinahe nur aus Rauch und Qualm bestehen zu scheint. Ihrem Blick nach zu schließen, bemerkt der Fremde ihre Unsicherheit und dennoch fühlt er sicher ebenfalls die Gleichtülgitgkeit, die ihren Leib einhüllt. Sie sitzt vollkommen reglos da, sagt nichts und versinkt in Mitleid mit sich selbst. So oft hat sie schon versucht dieses zu unterdrücken, doch es gelang ihr niemals, vermutlich nannte man dies Schicksal.
Als zwei Augenpaare das Mädchen striffen, erwiderte sie die Blicke kurz und nahm dann ihren starrenden Winkel von leerem Blick wieder auf.
"Wen hast du da mitgebracht Joe?" Noemie lächelte schwach, als sie seinen Namen hörte. Er hieß Joe, der Name gefiel. Der komplette Mensch ebenfalls. Es kam ihr beinahe vor, als kenne sie ihn schon länger, als 3 Minuten. "Das ist..." Er blickte die Dunkelhaarige grinsend an. Anders zu ihr Schein seine Laune geregelt und weniger zerbrechlich zu sein. "Noemie." Hauchte die Launische und starrte weiterhin auf den nur für sie sichtbaren Fleck im ewigen Rauch versinkend. "Ahja gut. Was will sie hier?" Sie schien nicht willkommen, doch dies war zur Gewohnheit geworden. "Sie ist... keine Ahnung, sie wollte halt mit." Der eine nickt und lässt sich nun mit seinem Freund neben ihnen nieder. "Solang sie die Schnauze hält..." Wisperte der eine Blonde, welcher bis hierhin noch kein Wort verloren hatte. Er schien im ersten Augenblick schüchtern, doch im nächsten erkannte man diese unglaubliche Fülle von Angst, die seinen Leib säumte. Trotz ihres eigenen Schicksals empfand Noemie Mitleid mit diesem Anblick und hütete sich ein Wort zu verlieren, um seine glimpflich erscheinende Lage nicht noch zu verschlimmern. Sie selbst wusste doch nur zu gut, wie es war Angst zu haben und willenlos mit dieser zurecht zu kommen, was trotz nach Jahren noch zu schwer um zu vergessen war.
"Hast du sie dabei?" "Hab ich." Noemies erster Bekannter zog seinen Rucksack unter dem Tisch hervor und ließ nach einigen Augenblicken eine ganz in grün gehüllte Shisha erscheinen. Verständlich, dass diese hier keinen Blickfang bildete, denn diese Bar schien vollkommen für die klein bis großen "Rauchmaschinen" gemacht zu sein.
"Raucht ihr das?" Noemie ließ den Blick fallen, wollte nicht in die ängstlichen Augen des Blonden sehen, welcher ihr Wort vermutlich nicht ertragen konnte. "Ja." Hingegnete nur Joe in Gleichgültigkeit und begann eine Kohle über einem Bunsenbrenner zu erhitzen. Shisha rauchen, bot dies Ablenkung, gab es irgendein Feeling, was einen vergessen ließ?
Der Schlauch nimmt weiter seine Runde und nun gleitet er auch in Noemies Hand. Die Unsicherheit plagt sie, würden die Jungs sie auslachen, breche sie ihn Husten aus? Doch wie würde sie dies wiederum verkraften? Sie spürt den wagemutigen Blick auf sich ruhen und sieht kurz zu Joe, die beiden anderen werden vollkommen ausgeblendet. "Es ist nicht schlimm." Gewiss íst es nicht schlimm für ihn, aber er ist nicht sie und somit ist sie auch nicht er. Dennoch wagt sie sich einen Zug zu nehmen, führt den grünlich schimmernden Schlauch an ihren Mund und saugt den Rauch der Shisha kräftig ein, ehe sie ihn stoßweise hinaus gibt. Ein süßlicher Geschmack liegt auf ihrer Zunge, nachdem sie den Schritt vollendet hat. Egal was die anderen jetzt denken, sie ist stolz auf sich und ebenso erleichtert, dass ihre Lungen nicht versagt hatten. Immerhin rauchte sie nicht einmal Zigaretten und nun gleich an diesem Objekt.
"Monika kam gestern wieder zu mir." Der Blonde lehnt sich zurück und versinkt halb im Kissenreich der Sitzecke. Roter Samt umschmiegt in Perfektion seinen Leib.
"Tatsächlich..." Meint Joe daraufhin nur grinsend und tut es ihm gleich, lässt sich zurück fallen. "Sie will mich zurück. Kann mir jemand die Logik der Frauen erklären!?" Er nimmt Noemie den Schlauch aus der Hand, nimmt einen kräftigen Zug und sieht dann mit leeren Blick zu ihr. Alles in ihm scheint zu schreien und das Mädchen wagt kaum in seine innigen Augen zu sehen. "Kannst du mir sagen, wieso sie mich betrügt und dann erwartet, dass ich ihr immernoch hinterher laufe?" Diese lässt den Blick sinken, zuckt kurz mit den Schultern. "Vielleicht... erwartet sie es gar nicht." Er blickt das Mädchen nur verwirrt an und legt die Stirn in Falten, ehe er sich durch das dichte Haar streicht. "Wie meinst du das denn?" Nun erlangt sie auch die Aufmerksamkeit der anderen beiden, welche schweigend zu ihr hinüber blicken. Erregung liegt verschwommen in ihren Mienen, offenbar hatten sie zuvor nicht damit gerechnet, dass sie solch eine Antwort zu hören ließ oder das sie überhaupt eine gegeben hatte.
"Vielleicht wünscht sie es sich ja nur. Sie erwartet es nicht unbedingt von dir, aber..." Er dankt nickend ab und legt den Kopf leicht schief. "Gehört nicht mehr zu der Logik?" Fragt er nach einiger Zeit schmunzelnd, doch aus Stimme und Gestik lässt sich nicht schließen, in welche Richtung seine Worte tendieren. Noemie wirft ihm unsicher einen Seitenblick zu, doch als er ihr den Schlauch reicht und sein Blick immernoch straffend gegen ihren schmalen Leib gerichtet ist, bringt sie sich letztendlich dazu, zu antworten. "In dieser Hinsicht ist es doch nur eine Vermutung." Seuzte sie tonlos und nimmt einen kräftigen Zug, wobei sie Sekunden den Blick senkt und ihn erst nach Augenblicken wieder hebt und schließlich ein zierliches Lächeln auf seinen Lippen ausmacht. "Habe... ich was falsches gesagt?" Erneute Unsicherheit macht sich breit, doch scheinbar geht diese nur von Noemie aus, denn die beiden anderen Jungen schweigen nur zurückgelehnt und bilden die Ruhe in Person, wie sie im roten Samt abhängen und die Bequemlichkeit der Kissen auskosten. Dem Blonden ist ledigtlich das Lächeln abzugewinnen, welches Sekunden zuvor seine Lippen erschlichen hatte. "Du solltest mehr rauchen." Meint dieser nur und die Ränder seiner Lippen erheben sich, bis dieser Vorgang als ein Grinsen identifizierbar ist. Noemie wundert sich, wie man etwas für jemanden wie ihn empfinden kann, abgesehen von Verständnislosigkeit. Sie versteht diese Monika nicht, da sie sich nicht vorstellen kann, dass sie jemanden liebt, aus dem man niemals schlau werden zu scheint. Vielleicht erfindet er dies auch nur alles, um sie zu verunsichern und ihr in ihrer angeblichen Tugend vorschreiben kann, was sie zu tun und zu lassen hat. Würde er dies tatsächlich ausnutzen, wäre Noemie vollkommen bereit jegliches Vertrauen gegenüber dem männlichen Geschlecht vollendens zu verlieren.
Die Shisha dreht ihr Runden, bis der letzte Krümel verbliebener Kohle aufgebraucht ist. Alle vier nutzen den Geschmack des Tabaks vollkommen aus und kosten den süßen Geschmack von Freiheit, ohne auf die Zeit zu achten, welche unvermittelt vondannen rauscht. Noemie's Schule hat längst geendet, als sie einen Fuß ins Freie setzt und statt Rauch, Frischluft in ihre Lunge saugt. Sie verabschiedet sich mit einem schwachen Kopfnicken von den Dreien, welche ihr gleiche Gestik entgegenbringen. Ihre Laune steigt, als sie dies bemerkt und endlich etwas zurück bekommt, was sie zuvor gibt. Es ist ein schönes Gefühl und obgleich sie die Schule Vormittags hängen gelassen hatte, nimmt sie sich nun vor, dies zu wiederholen und einmal über Regeln hinweg zu sehen, genau wie er es immer tut. Er... Noemie schüttelt seufzend den Kopf und bereut es wenige Sekunden darauf sich jemanden wie ihn wieder in den Sinn gerufen zu haben. An ihn sollte sie keinen Gedanken verschwenden, zumal nicht, wenn ihre Laune positiv über dem Durchschnittsmaß liegt. Da würde alles Gute nur verfliegen, wenn sie an diese vielen qualvollen Stunden dachte...
Seufzend drehte sie sich um, strich sich mit der linken Hand durch die Haare und taxierte, als sie schon auf dem Bürgersteig der Hauptstraße stand, den Verkehr, welcher unaufhaltsam weiterfloss. Irgendwie empfand sie den Gedanken als beunruhigend, wenn alles und jeder normal weiterlebte und nur sie in diesem schwarzen Loch stecken blieb. Eigentlich würde sie lieber gedankenlos ihre Freunde besuchen gehen, doch sie hatte keine. Niemanden, der alles von ihr wusste oder in irgendeiner Weise mit ihrer verschlossenen, zurückhaltenden Art zurecht kam. Wer zu ihr Blickkontakt aufnahm, wurde von anderen schief angesehen und egal ob es das Lachen der Mitschüler über sie war oder eine geworfene Kreide absichtlich ihren Körper striff, all dies tat zusätzlich zu den täglichen Qualen noch weh. Dass sie von dem ganzen Schmerz, den sie empfand noch nicht überwältigt worden war, wunderte das Mädchen selbst und auch wenn sie eigentlich darum bemüht war nicht ständig in Selbstmitleid zu versinken, musste sie sich immer wieder eingestehen, dass ihr Schicksal da draußen nicht unbedingt zu den leichtesten gehörte. Doch wenigstens lebte sie noch und hatte sich noch nicht ganz emolike die Pulsadern aufgeschnitten, sondern atmete noch ein und die selbe Luft, wie die Mörder ihrer Gefühle und Hoffnungen, welche aus ihrer Sicht nichts besseres zu tun hatten, als ihr das Leben zur Hölle auf Erden zu machen.
Ein lautes Hupen riss Noemie aus ihren Gedanken, sie wandte ihren schmalen Körper in Richtung des Geräusches und ließ den benebelten Blick suchend umher gleiten, obwohl dies eigentlich nicht nötig gewesen wäre, denn das Auto, wessen Fahrer zürnend die Hände empor hob, befand sich unmittelbar vor dem Mädchen.
"Hast du Tomaten auf den Augen!? Wieso stehst du mitten auf der Straße herum!?"
Erst jetzt begann die Dunkelhaarige zu realisieren, dass sie sich tatsächlich unmittelbar auf der Fahrbahn befand und sich gerade eine Autoschlange bildete, weil sie den Verkehr hinderte weiterzufließen. Doch egal, wie zürnend der Autofahrer erschien, Noemie fand auch in dieser Siutation einen Sinn, in Gedanken zu versinken und das Geschehen in ihrer kleinen Welt als etwas Tiefgründiges darzustellen und begann ihren Gedanken, trotz des ungünstigen Standpunktes, freien Lauf zu lassen.
War es möglich, dass sie auch in der Realität durch eine Schritt die Welt anhalten konnte? Oder zumindest einen Teil, dessen Leben dann für Sekunden aussetzte, nur weil sie es so wollte? Aber wenn das möglich wäre, wieso hatte sie den Schlüssel dazu noch nicht gefunden, wo ihre Gedanken doch beinahe unaufhörlich darum kreisten?
"Mädchen, geht es dir nicht mehr gut?! Gehe jetzt verdammt nochmal von der Straße!"
Plärrte die gleiche, unangenehm raue Stimme erneut und nun setzte sich Noemie in Bewegung, trat hinüber auf die Verkehrsinsel und besah den Autofahrer, welcher erneut kopfschüttelnd auf das Gas trat und das Weiterfließen des Verkehrs somit auf ein Neues ermöglichte.
Dabei war es doch so ein schönes Gefühl gewesen, andere aus dem gewöhnlichen Leben zu reißen und ihnen einfach einmal zu beweisen, dass es nicht nur glatt laufen konnte. Manchmal kam eben jemand ungefragt und ungebeten und verhinderte ein schönes, sauberes Weiterleben. Es war eigenartig, dass Noemie sich schon wieder den Kopf darüber zerbrach. Sowieso bemerkte sie auch heute wieder, dass das Leben komisch war. Ja, das Leben war komisch, selbst der großartigste Philosoph würde es vermutlich nie schaffen, den Sinn und den Ablauf des Lebens, in einem Satz zu beschreiben. Es war schlichtweg unmöglich.
- Ende von Kapitel 3 -