Ich stehe auf einer Brücke. Unter mir ist ein hundert Meter tiefer Abgrund. Ich breite meine Arme aus und strecke den Kopf in Richtung Sonne. Hinter mir höre ich Geräusche. Als ich nach hinten schaue steht dort eine Menschenmenge. Sie starren mich an und in ihren Augen blitzt etwas auf, was ich im ersten Moment nicht deuten kann. Es werden immer mehr. Sie beobachten mich. Ich fühle mich, als würde ich in einem Zoo hinter Gittern sitzen.


Auf einer Brücke, ziemlich hoch
Hält ein Mann die Arme auf
Da steht er nun und zögert noch
Die Menschen strömen gleich zu Hauf’

Plötzlich taucht ein Mann auf. Er ist groß und hat einen kahl rasierten Schädel. Er schaut mir direkt in die Augen. Sein Blick ist kalt. Er steht dicht vor der Menschenmenge, die inzwischen weiter angewachsen ist. Eine unheimliche Aura scheint ihn zu umgeben. Sein Blick heftet sich an meine Augen. Er lächelt…

Auch ich lass mir das nicht entgehen
Das will ich aus der Nähe sehen
Ich stell mich in die erste Reihe
Und schreie…

Das Alles wird mir zu viel. Ich will von der Brüstung steigen und habe das dringende Bedürfnis mich an einen sichereren Ort zu begeben. Da wird mir klar, was der Ausdruck in den Augen der Leute zu bedeuten hat. Sensationsgier, die pure Lust nach etwas Schrecklichem, etwas Gefährlichem… Sie rücken näher. Der Abstand zwischen ihnen und mir beträgt nur noch knapp zwei Meter. Mordlust zeichnet ihre Gesichter. Ihre Züge sind unmenschlich verzogen. Sie sehen aus wie tollwütige Tiere.

Der Mann will von der Brücke steigen
Die Menschen fangen an zu hassen
Bilden einen dichten Reigen
Und wollen ihn nicht nach unten lassen

Inzwischen kann ich ihre Gerüche wahrnehmen. Eine Mischung aus Schweiß und teurem Eau de Toilette. Aus Angst drehe ich mich wieder um und besteige die Brüstung ein zweites Mal. Plötzlich kommt Lärm auf. Ich höre sie nur wie durch einen Lärmschutz. Ihre unartikulierten Schreie werden immer Lauter. Ich verstehe ihre Worte, doch ihre Bedeutung will mir nicht klar werden. Ich bin starr vor Angst. Dann ein Schrei von einem nicht erkennbaren Gesicht aus der hinteren Reihe: „Spring“ Es folgen mehrere seinem Beispiel. „Ich will dich springen sehen! Du kannst nicht mehr zurück! Enttäusch uns nicht! Mach deinen Qualen ein Ende!“

So steigt er noch mal nach oben
Und der Mob fängt an zu toben
Sie wollen seine Innereien
Und schreien:

Spring…
Spring…
Spring!!!

Spring!
Erlöse mich!
Spring!
Enttäusch mich nicht!
Spring für mich!
Spring ins Licht!
Spring…

Mir laufen Tränen übers Gesicht. Alles wirkt verschleiert, wie hinter dem dichten Nebel verschwunden, der den Fluss in der Morgendämmerung bedeckt. Wie ein Signal verdunkelt sich das Licht der Abendsonne und mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wieso ich? Was habe ich getan? Meine Gedanken umkreisen verwirrt das unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannte Bild. Was hab ich getan? Sie hören nicht auf zu schreien. Sie werden lauter, kommen näher. Meine Knie zittern immer heftiger. Ist ihnen denn nicht klar, dass ich mich nur frei fühlen wollte? Sind sie sich der schönen Bilder, die man von so weit oben erhaschen kann nicht bewusst? Ich muss mich an den Pfeilern festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie sind so nah…

Jetzt fängt der Mann zu weinen an
Heimlich schiebt sich eine Wolke
Fragt sich: „Was hab ich getan?“
Vor die Sonne es wird kalt

Ich wollte nur zur Aussicht gehen!
Die Menschen laufen aus den Reihen
Und in den Abendhimmel sehen
Und sie schreien:

Spring…
Spring…
Sie schreien: Spring!!!
Spring!
Erlöse mich!
Spring!
Enttäusch mich nicht!
Spring für mich!
Spring ins Licht!
Spring…

Heimlich schiebt sich eine Wolke
Vor die Sonne, es wird kalt
Doch tausend Sonnen brennen nur für dich!

Ich wende mich ab, kann den Anblick dieser sensationsgeilen Menschen nicht mehr ertragen und sehe wieder in den Abgrund. Auf einmal scheint die Aussicht unerträglich. Ein unheimliches Gewicht scheint mich nach unten zu ziehen. Aus den Augenwinkeln erhasche ich eine Bewegung. Bevor ich mich umdrehen kann fühle ich einen Schlag im Rücken. Ein Schrei bleibt mir im Halse stecken. Der Sog des Abgrundes hat mich erfasst. Zieht mich unweigerlich in die Tiefe. An meinem inneren Auge rasen Bilder vorbei. Bilder aus meiner Kindheit. Dann wird alles dunkel. Das letzte, was ich höre, ist „Spring!“
Es folgt höhnisches Gelächter.
Dann…
Stille…


Ich schleich mich heimlich auf die Brücke
Tret ihm von hinten in den Rücken
Erlöse ihn von dieser Schmach
Ja!
Und schrei ihm nach:

Spring!
Spring!
Spring!
Spring!
Erlöse dich!
Spring!
Enttäusch mich nicht!
Spring, spring für mich
Spring! Enttäusch mich nicht!