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Zum Ende der Seite springen Russischer Winter
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Schlumpf Schlumpf ist weiblich
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Russischer Winter Auf diesen Beitrag antworten Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       Zum Anfang der Seite springen

Bin im Moment in Stimmung, naja, der Satz, der diese ganze Geschichte nach sich zieht, keine Ahnung ob sowas 'Inspiration' ist oder so, hehe

"Moscow has grown quiet. The squeak of wheels is heard occasionally in the wintry streets. The windows are no longer lighted. The streetlamps have been extinguished."
The Cossacks, Leo N. Tolstoy


Moskau ist still gewachsen. Über Nacht, wenn der Mond seine langen, milchigen Finger in die Gassen und Straßen taucht, wächst es; Schaufenster erleuchten wie glühende Augen an den Hauptstraßen der Stadt, hinter denen stille Gesichter sich unterhalten. Wenn ich durch die Stadt gehe, in solchen Nächten, denke ich an Salomé. Ich denke an ihr Gesicht hinter einem dieser Glasscheiben, stelle mir vor, wie ich sie erkenne, wie ich anhalte und durch das Fenster in eines der Nachtcafes schaue, ich stelle mir vor, wie ich mich freue. Meistens gehe ich dann weiter, es war nicht viel mehr als bloß eine kurze Illusion, ein Mädchen hinter einer Scheibe, dass vielleicht ein bisschen so aussah wie sie, die Bereitwilligkeit und naive Hoffnung meines Geistes, sich dieser Täuschung hinzugeben. Oh, ihr versteht nichts, ganz egal was ich euch erzählen würde, ihr würdet es nicht verstehen können, das Herz kennt nur die Dinge, die es erlebt, es erhebt sich nicht in ungekannter Hoffnung und leidet nie an ungefühltem Schmerz.
Ich sah sie zum ersten Mal in einem Winter vor 6 Jahren, ich sehe sie wieder vor mir; sie stand vor unserem Haus und blickte zu meinem Fenster herauf, so eine eigenartige Erscheinung, ein blasses Gesicht mit zu großen Augen, eine magere Gestalt, wie sie da im Schnee stand.
Ich weiß es noch genau, suche manchmal die Stelle auf, wo ihre kleinen Füße damals im Schnee gestanden haben, in dem Winter vor sechs Jahren. Dann rief jemand nach ihr, sie ging langsam weiter, ich sah eine große Frau in einem Pelzmantel unter der Straßenlaterne, sie schimpfte mit ihr, doch das Mädchen schien es nicht zu hören.
Ich weiß nicht, wie ich weiter erzählen soll, die Dinge nehmen ihren Lauf, sie nehmen ihn in einem eigenartigen Zauber,was soll ich tun, der Tag verliert seine Stunden wie der Baum seine Blätter und nun ist nichts mehr übrig davon als ein paar Erinnerungen an einen längst vergangenen Zauber.
Ich erfuhr, dass sie jetzt in unsere Nachbarschaft gezogen waren, ihr Haus stand etwas entfernter als die anderen Villen, mit Blick auf einen kleinen See, umschmiegt von hohen Bäumen. Ich stellte mir vor, wie sie hinter den schweren Samtvorhängen stand und hinunter blickte, ich stellte mir vor, dass ich nun derjenige war, der zu ihrem Fenster hinaufblickte, es war verrückt, ich kannte sie noch nicht einmal, sie war nur irgendein 12jähriges Mädchen aus der Nachbarschaft mit wohlhabenden Eltern, knochigen Schultern und diesem Blick, der mich gefangen hielt, ich kann es nicht erklären, wie könnte ich!
Ein paar Tage später klingelte sie bei uns. Unsere Haushälterin öffnete die Tür und ich kann mich noch genau an ihre Worte erinnern:
"Ich möchte gerne mit ihm Schach spielen."
Sie sagte diese Worte mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass sie noch nicht einmal unhöflich erscheinen konnten. Sie lud mich ein, zu ihr nach Hause zu kommen, meine Hände zitterten und ich war stumm, doch sie störte es nicht, Stille mit ihr ist so herrlich unbefangen. Nur verschwommen erinnere ich mich an den Nachmittag, vielmehr lauschte ich dem eigenartigem Klang ihrer Worte, als deren eigentlichem Sinn, vielmehr betrachtete ich sie dabei, wie sie die Figuren setzte, manchmal aufstand, lachte, den Vorhang aufzog oder für ein paar Minuten einfach dasaß, in die Leere blickte und gar nichts tat.
Den Sommer verbrachten wir oft in dem Kirschgarten hinter ihren Haus, zwischen dem schweren Duft der Blütenblätter und ihrem unerträglich leichten Sein unter dem grauen russischen Himmel, die russischen Sommer sind nicht viel anders als russische Winter, der Himmel setzt auch im August seine klamme graue Maske nicht ab, nur die Kirschblüten blühen und die Äste der Bäume wiegen sich nicht unter den Lasten von Schnee.
Ich denke an einen dieser rosanen Tage, wo wir unter dem Baum sitzen, sie bat mich, ihr etwas vorzulesen, stundenlang konnte sie zuhören, Tolstoi, Zola, Baudelaire, Kafka, Shakespeare oder Wilde, dann saß sie da und ich glaubte, dass sie nicht bei mir war, dass ihre Gedanken die einen oder anderen Orte betraten, die mir nicht begreiflich waren. Wir saßen da und sagten nichts, der Himmel wurde schon langsam dunkel, selbst die längsten Tage haben ihre Nächte, und sie beugte sich zu mir und küsste mich mit ihren kalten, weichen Lippen, wie sollte ich jetzt reden, mit diesem Gefühl auf meinem Lippen, wie konnte ich jetzt schlafen, mit ihrer Stimme in meinem Kopf.
Ich war niemals einer, der liebte. Nicht einmal sie konnte ich irgendwie lieben, sie hatte nur irgendetwas Befremdliches an ihr, dass ich begehrte, eine Leidenschaft, der ich erlag und der ich mich nicht erwehren konnte. Meine Sehnsucht nach ihr war vielmehr eine Sehnsucht nach der Illusion oder Zauberhaftigkeit, die die Momente mit ihr in meinem Gedächtnis prägen, ich kann es nicht erklären, schon wieder nicht, der Mensch sehnt sich danach, der Realität zu entkommen, jeden Abend geben wir sie auf, schließen die Augen und sterben, bloß um zu Träumen, weil es für uns sonst unerträglich ist.
Wir waren beide auf der gleichen Schule, sie zwei Klassen unter mir. Ich sah, wie die anderen Jungen sie anschauten, sie gaben es niemals zu, unter den Mädchen war sie ein Außenseiter, doch sie interessierte es nicht, was macht es schon, ein einzelner Paradiesvogel zu sein, was macht das schon? Heimlich aber küssten sie viele, Vitali, Ilja, Wladislav, Artur, Boris, Andrej, vielleicht auch noch mehr, ich weiß es nicht genau, sie war ja erst 12.
Wir wurden älter, wir gingen oft weg, sie liebte die Hauptstraßen und eben diese Nachtcafes, sie schaute immer auf die Straße hinaus, so gedankenverloren, betrachtete die Menschen, erzählte sie mir, aber viele Menschen an sich möge sie nicht sonderlich. Als sie siebzehn war und ich 20 zog sie zu einem Mädchen aus meiner Stufe, die eine schöne Wohnung in der Stadt hatte, sie erzählte mir, es sei so schöner und zuckte ein wenig mit den Schultern. Wenig später beendete ich die Schule und begann, Kunst an der Moscow State University of Arts zu studieren. Trotzdem sahen wir uns noch oft, es war wie eine geheime Abmachung, meine Nächte gehörten ihr. Eines Tages kam sie in unser Atelier, sie schritt zwischen den Kunststudenten hindurch, setzte sich auf das Podest und ließ langsam das Tuch fallen, unser Professor erläuterte uns einige Sachen zu Praxis der Aktmalerei, doch ich hörte ihn nicht, seine Worte blieben in der Luft hängen wie ungeöffnete Briefe, ehe sie sich verflogen. Sie hielt das Tuch vor ihrem Oberkörper, ich fürchtete, sie könne es fallen lassen und all diese platten anderen Jungen könnten sie so sehen, doch sie wendete uns bloß den Rücken zu, ihren lieblichen Rücken, blickte mich über die Schulter an und lächelte.
Dann, vor zwei Monaten, war sie einfach fort. Ich rief das Mädchen aus meiner alten Klasse an, bei der sie gewohnt hatte, anscheinend freute sie sich über meinen Anruf zu sehr, wir verabredeten uns, dann schlief ich mit ihr, ich habe den Namen dieses Mädchens schon vergessen oder damals garnicht gekannt, es bedeutete nichts, ich wollte bloß etwas finden. Ich fragte das Mädchen, ob sie wisse, wo sie geblieben sei, doch sie schüttelte nur den Kopf, sie habe nur einen Zettel gefunden, darauf stand: Bin in Amerika.
Ich betrachtete die leere Matratze, legte mich darauf, stand wieder auf. Das Mädchen gab mir den Zettel, als ich sie darum bat, ich ging nach Hause.
Und jetzt laufe ich durch die Straßen, und alles was übrig ist, ist die Erinnerung und ein kleiner Zettel, gefüllt mit ihrer Handschrift. Es kommt mir jetzt so vor, als hätte der Schnee niemals so geglitzert wie in dem Winter vor sechs Jahren, und als wäre alles nur ein Traum. Ich denke mir, ob das alles so viel bedeutet hat für sie, wenn nach all den Jahren nichts weiter übrig ist als ein Zettel und ein Gemälde, eingewickelt in Leinen und versteckt hinter meinem Schrank.
Ich gehe durch die Straßen, ich starre in die Fenster der Nachtcafes und der Schnee betäubt meine Wangen.
Erinnert dich der Winter auch manchmal an was, aber du weißt nicht-
an was?

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10.05.2010 20:05 Schlumpf ist offline E-Mail an Schlumpf senden Beiträge von Schlumpf suchen Nehmen Sie Schlumpf in Ihre Freundesliste auf
nymphy nymphy ist weiblich
Zuckerschnegge


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Also russische Sommer sind nich grau großes Grinsen
So viel dazu Zunge raus

Du schaffst es die Umgebung perfekt in die Geschichte einzubringen.. bei Paris durchzog eine französische Leichtigkeit die Story wie ein Hauch Parfüm.. hier ist es eine Schwere in den Worten und eine Art, die sehr gut zu Russland passt.

Aber ich muss ganz böse sagen.. du hättest auch über Nonsens schreiben können... großes Grinsen du faszinierst mit Worten... böses Mädchen <.<
10.05.2010 21:00 nymphy ist offline Homepage von nymphy Beiträge von nymphy suchen Nehmen Sie nymphy in Ihre Freundesliste auf Fügen Sie nymphy in Ihre Kontaktliste ein MSN Passport-Profil von nymphy anzeigen
Schlumpf Schlumpf ist weiblich
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Themenstarter Thema begonnen von Schlumpf
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Den russischen Sommer, den ich kenne, leider schon.
Obwohl ich andererseits an diesen wunderbaren Film mit Christopher Plummer und Helen Mirren denken muss, indem der russische Sommer auch alles andere als grau war.
Aber es passte schön zur Geschichte ;D
Und ein wenig schreibe ich ja auch über Nonsens.

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14.05.2010 23:04 Schlumpf ist offline E-Mail an Schlumpf senden Beiträge von Schlumpf suchen Nehmen Sie Schlumpf in Ihre Freundesliste auf
_Fusselchen_ _Fusselchen_ ist weiblich
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ich find es wunderschön. Jedes Wort scheint irgendwie perfekt an seine Stelle zu passen und genau dorthin zu gehören. ich mag auch wie du zwischen diesen malerischen Beschreibungen und der Handlung wechselst. So wird es nicht langweilig, wie manchmal, wenn zu wenig Handlung in einer Geschiche ist. Wirklich schön :-)
19.05.2010 14:23 _Fusselchen_ ist offline E-Mail an _Fusselchen_ senden Beiträge von _Fusselchen_ suchen Nehmen Sie _Fusselchen_ in Ihre Freundesliste auf
Joi Joi ist weiblich
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Mir gefällt die Geschichte echt sehr gut smile

Ich denke ich werde weiterlesen.

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Idril Photography
19.05.2010 16:00 Joi ist offline E-Mail an Joi senden Beiträge von Joi suchen Nehmen Sie Joi in Ihre Freundesliste auf MSN Passport-Profil von Joi anzeigen
Schlumpf Schlumpf ist weiblich
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Dankeschön

Tut mir ja Leid dich enttäuschen zu müssen, Joi, aber die Geschichte ist zuende, es war nur eine Kurzgeschichte großes Grinsen

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Dieser Beitrag wurde 1 mal editiert, zum letzten Mal von Schlumpf: 03.06.2010 22:06.

03.06.2010 22:06 Schlumpf ist offline E-Mail an Schlumpf senden Beiträge von Schlumpf suchen Nehmen Sie Schlumpf in Ihre Freundesliste auf
+Arkane+ +Arkane+ ist weiblich
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Wow, du schreibst echt sehr gut :-)

Jedes Wort passt in die Geschichte und du beschreibst alles richtig schön und passend. Gefällt mir sehr, sehr gut
04.06.2010 16:49 +Arkane+ ist offline Beiträge von +Arkane+ suchen Nehmen Sie +Arkane+ in Ihre Freundesliste auf
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