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Zum Ende der Seite springen Der Anfang richtig Anzufangen | Kapitel I
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Blümchen
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Der Anfang richtig Anzufangen | Kapitel I Auf diesen Beitrag antworten Zitatantwort auf diesen Beitrag erstellen Diesen Beitrag editieren/löschen Diesen Beitrag einem Moderator melden       Zum Anfang der Seite springen



Der Anfang richtig Anzufangen

Kapitel I



In dergleichen Augenblicken bin ich eigentlich nur sauer auf mich selbst. Und trotzdem suche ich den Fehler bei anderen. Als seien sie Schuld – als wolle ich mich unbedingt davon befreien. Dann ist es egal, ob ich egoistisch handle oder denke, dann ist sowieso alles egal. Hauptsache ich habe kein schlechtes Gewissen mehr.
Es sind Momente, an die ich mich nicht genau zurück erinnere, aber trotzdem behalte ich sie im Gedächtnis. Sie machen mir das Leben schwer und ziehen mich in schlechten Zeiten bis zum Boden herunter und wenn ich dort bereits bin, treten sie noch zusätzlich auf mich ein.
„Delihla, essen!“
Es kränkt mich, zu wissen, dass diese Zeiten immer wieder kommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich auf Wolke 7 schwebe. Viel eher gilt: Umso höher du fliegst, umso tiefer kannst du fallen.
„Delihla, hast du mich gehört!?“ Von unten dröhnt die Stimme meiner Adoptivmutter laut und bestimmend zu mir nach oben. Doch sie hat keine Ahnung davon, wie ich momentan fühle. Sie kann es nicht beurteilen und ich würde es ihr nie erzählen. Wieso auch? Es spielt sich doch in mir ab und nicht in ihr – in keinem, nur in mir.
Plötzlich geht die Tür auf, die stämmige Frau sieht zornig auf mich herab. Ich erwidere ihren Blick emotionslos und rutsche langsam auf die Knie.
„Hast du mich nicht gehört?“ Fragt sie und ich schmunzle. Wenn ich ihr sagen würde, dass ich sie absichtlich ignoriert hatte, würde sie sauer sein. Deshalb log ich: „Ich hatte Musik an.“ Ihr Blick gleitet an mir herunter und fixiert für Sekunden den MP3 Player, der vor mir liegt.
„Hmh, es gibt Essen.“ Meint sie schließlich und ich höre den entschuldigenden Unterton ihrer Stimme. Eigentlich, denke ich mir, habe ich ihn nicht verdient. Und das habe ich wirklich nicht.
Als sie das Zimmer verlässt, werfe ich einen Blick auf das Musikgerät. Ich habe ihm einiges zu verdanken, weiß ich, und dem Zufall, dass es ausgerechnet dort lag, als ich diese Ausrede brachte, auch.
Aber Zufällen kann man nicht danken. Man kann auch keiner Maschine danken, weil sie keine Gefühle hat. Das lernt man im Kindergarten, aber Gefühle für sie baut man trotzdem auf. Es gibt nämlich kein Lernprinzip für Gefühle – die sind einfach.
Es dauert einige Minuten, dann stehe ich vor der Küchentür und stoße sie mit einem geschickten Kniehieb auf. Das habe ich schon immer so getan und wenn sie nicht zufällig richtig zugemacht wurde, geht sie auch auf, ohne dass man sich weh tut.
Am Tisch sitzen schon meine drei Adoptivgeschwister und mein Bruder. Unsere Adoptivmutter thront am Stirn des Tisches und lächelt mir munter zu. Sie haben noch nicht begonnen zu essen. Wie immer eben und wie immer bin ich die letzte. Früher war es anders gewesen, aber früher hatte ich auch nicht hier gelebt.
„Gibst du mir mal die Nudeln?“ Heike lächelt. Sie heißt Heike und auch wenn ich ihren Namen nicht mag, muss ich doch zugeben, dass er zu ihr passt. Sie hätte gar nicht anders heißen können.
Heike schiebt Brian nun die Nudel rüber und ich setze mich auf meinen Stuhl. Neben meinen Bruder. Hier fühle ich mich am wohlsten, Brian gibt mir etwas heimisches, obwohl wir nie eine Heimat hatten. Oder waren wir selbst unser Zuhause gewesen? Er für mich und ich für ihn? Ich hatte ihn nie gefragt, er sprach nicht gerne über seine Gefühle – zumindest vermutete ich das.
„Ich hab heute eine 1 in Mathe zurückbekommen.“ Berichtet Selina stolz und schiebt Heike ihren Teller rüber, damit sie ihr die Nudeln schneidet.
„Das ist ja klasse…“ Lobt sie und setzt Messer und Gabel an, zieht mit ihnen Linie um Linie, teilt Nudel um Nudel entzwei. Und währenddessen frage ich mich, wann Selina endlich lernen wird ihre Nudeln auf einem Löffel aufzurollen. Vermutlich nie, feixt etwas in mir. Und ich weiß, dass ich sauer darauf bin, aber nicht, weil sie so unselbstständig ist, sondern weil ich es mir in ihrem Alter nie hätte erlauben dürfen.
„Und wie sieht es bei euch aus?“ Heike sieht die beiden Zwillinge an. Sie sind vor einer Woche 13 geworden und damit offiziell in die Pubertät gestartet. Das ist nun ihre Erlaubnis sich zu benehmen wie Kinder, die niemals eine Erziehung genossen haben. Eine Erlaubnis, die sie sich gegenseitig gegeben haben. Heike, ich oder Brian, wir hatten da nie ein Wörtchen mitzureden gehabt. Und dass, wo wir sie täglich ertragen mussten. Sie selbst schienen damit allerdings keine Probleme zu haben.
„Geht’s dich was an?“ Anna grinst Denise lobend an. Anscheinend findet sie, dass ihre Zwillingsschwester eine ordentliche, freche Antwort zurückgegeben hat.
Und ich bin mir fast sicher, dass wir drei das gleiche denken: Jetzt geht das wieder los – jetzt schaukeln sie sich wieder gegenseitig hoch. Heike hat darunter am meisten zu leiden und wenn ich bedenke, dass sie nicht nur genervt und gestresst, sondern auch noch verletzt wird, bekomme ich tatsächlich Mitleid mit ihr. Obwohl ich Heike nicht mag, ich mag sie genauso wenig wie ihren Namen. Deshalb kann sie auch nicht anders heißen.
„Ich wollte doch nur…“ Die Blonde verzieht den Mund, fast als bereue sie ihre Worte. Dabei hatte sie nicht einmal etwas Falsches gesagt. Sie durfte Wollen und sie durfte Bestimmen – nicht so wie die Zwillinge.
„Ich mein, ist doch klar, dass ich 6en schreibe, wenn der fette Heiner so eine Scheiße abzieht.“ „Ja ey, der ist so scheiße. Der Penner.“ Anna und Denise waren sich über Herr Heiner einstimmig. Da blieb uns wenigstens der übliche Zickenkrieg erspart.
„Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden?“ Ein gut gemeinter Rat Heikes, der allerdings auf großen Protest stößt. „Mit dem reden? Der kann ja nicht mal reden. Der ist zu scheiße dafür, der würde dir eh nur Scheiße erzählen.“ „Ja ey, der Penner.“
Ich schiele zu Brian herüber. Er hat die Hände im die Gabel gepresst, dass seine Finger weis anlaufen. Ich frage mich gerade noch, wie lange er sich wohl beherrschen kann, als die Zwillinge sich schon erheben und beide, mit hoch erhobenem Teenagerhaupt, den Tisch verlassen, um auf ihre Zimmer zu gehen. Dort setzen sie sich sicher an ihre Hausaufgaben, ganz artig und beten zu Gott, dass er ihnen die bösen Worte verzeiht, denke ich mir und schaufle mir noch eine Portion Nudeln auf. Jetzt kehrt endlich Ruhe ein und Brian kann den Griff um das Besteck wieder lockern, ohne Gefahr zu laufen, sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
„Sie sind anstrengend, ich weiß…“ Seufzt Heike und lächelt Selina zu. „Du hast das noch vor dir, aber zum Glück ist es nur eine Phase.“ „Eine doofe Phase!“ Stellt die 9 jährige fest und zieht die Beine an den Bauch. Auch wenn sie auf den ersten Blick hin schon recht reif wirkt, ist sie das im Vergleich zu mir nicht. In ihrem Alter war ich reifer – und eigentlich wäre ich es gerne nicht gewesen. Schon so früh den Ernst des Lebens begreifen zu müssen ist, als erhasche man einen Blick auf den eigenen Tod.

Das weitere Essen ist friedlich verlaufen. Ohne freche Bemerkungen eines pubertären Teenagers und ohne unangenehme Fragen, die Heike schon so oft gestellt hat. An Brian und an mich. Und wir beide, so kommt es mir immer vor, hassen sie gleich.
Und nun sitze ich in meinem Zimmer, über meine Hausaufgaben gebeugt. Wofür wir lernen Wurzeln aus Zahlen zu ziehen, weiß ich nicht. Wann und wo man das im späteren Leben noch einmal anwendet, ist meiner Ansicht nach leicht zu beantworten: Nie und nirgends. Trotzdem tue ich meinem Mathelehrer den Gefallen und ziehe die Wurzel aus 25, ich ziehe sogar aus 7. Aus 144 ziehe ich sie für meine Mutter - für die, der ich zu verdanken habe, dass ich hier bin. Ich vergesse das immer wieder. Der Gedanke auf der Straße zu leben ist inzwischen schon so fern und das Gefühl sich alleine zu fühlen, erscheint mir fremder denn je. Ich habe mich geändert. So sehr, dass ich es kaum für möglich halte, dass ich noch eine Vergangenheit habe. Dass mein Leben früher nicht so rosig und farbenfroh war, wie es jetzt ist. Ich bin aus einer schwarz weißen Welt in eine rot gelbe eingetaucht. Und die Vorstellung wieder farblos zu leben, ist eine, die ich nicht haben möchte. Doch sie ist da. Tief in mir drinnen fühle ich es. Ich fühle die Unsicherheit und die Angst, die mich nurnoch in Träume verfolgt, an die ich mich am nächsten Morgen nicht mehr erinnere. Und ich empfinde Dankbarkeit gegenüber Heike, gegenüber eines Menschen, den ich nicht mag und vermutlich nie mögen werde, obwohl er mir alles gab, was ich brauchte. Obwohl er mir half, als ich es am nötigsten hatte.
Aber ich weiß, dass sie mir nie das geben wird, was ich mir am meisten wünsche. Sie wird nie die sein, zu der ich komme, wenn ich Sorgen habe. Die mir ein Lächeln schenkt, wenn ich weine. Denn sie wird nie meine Mutter sein, auch wenn sie sich fühlt, als wäre sie es.
Als ich wieder aus meinen Gedanken heraus tauche und auf mein Mathematikheft herabsehe, blicken mir Augen entgegen. Sie wirken traurig und scheinen allen Frust der Welt in sich zu vereinen.
Augen sind der Spiegel der Seele, rufe ich mir in Erinnerung und setze mich ganz gerade auf den Fußboden.
Ob es möglich ist Gefühle zu malen? Ich drehe mich um, suche mit Blicken nach jemandem, der es mir sagen könnte. Den ich fragen könnte. Doch ich bin alleine in diesem Zimmer und keiner ist da, der schützend seinen Arm um mich legt und mir sagt, dass alles wieder gut wird. Hier fehlt jemand, mir fehlt jemand. Ich will, dass sie da ist, doch ich weiß nicht, ob es sie überhaupt je gegeben hat. Rein biologisch gesehen ist es nicht anders möglich, rein biologisch gesehen muss sie da sein. Oder zumindest einmal existiert haben.

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02.03.2008 13:56 Blümchen ist offline E-Mail an Blümchen senden Beiträge von Blümchen suchen Nehmen Sie Blümchen in Ihre Freundesliste auf
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