Misstrauisch gehst du durch die Flure des großen Gebäudes. Das hier soll also dein neues Zuhause werden – wer weiß für wie lange. Freiwillig bist du nicht hier, nein, ganz sicher nicht. Alles hier drin wirkt noch so kalt, irgendwie leer und trotz jedweder Bemühungen die wohl unternommen worden waren kannst du dich nicht wohlfühlen. Du hasst es schon jetzt und das wird sich wohl auch nie ändern. Aber ist es wirklich dieses Gebäude das du hasst? Dieses Zimmer das du nun dein Eigen nennst? All die Menschen denen du begegnen werden wirst? Ist es nicht vielmehr die Verachtung deiner Selbst für das was du dir und Anderen wieder und wieder antust?

Clervaux. Das ist dieses verdammte Dorf in das sie dich verbannt haben. Du hast früh bemerkt, dass hier nichts so ist wie es scheint, dass das Einzige was diese Menschen hier können Reden ist. Natürlich, du bist der Aussätzige, der durch sein ‚inkorrektes’ Verhalten nicht nur sein eigenes Leben sondern auch das seiner Familie zerstört. Du bist Schuld. Du warst es immer. Überall um dich herum ist nur noch Grün – Wiesen, Felder, Wälder. Eine Stadt scheint kaum erreichbar von diesem abgeschiedenen Ort.
Mit einem Mal wird dir klar, dass das hier der bittere Ernst ist. Keine Stadt bedeutet keine Partys, kein Alkohol, keine Drogen. Du bist dir sicher, dass du in der Hölle gelandet bist, dass die Zeit in Esch Sur Alzette die schlimmste deines Lebens werden würde.

Immer mehr Jugendliche, vermutlich alle in deinem Alter, beziehen das Gebäude, doch dir fällt kein Einziger auf, der glücklicher scheint als du. Du begreifst, dass auch sie ein schweres Schicksal auf ihren Schultern tragen, dass sie dir wahrscheinlich ähnlicher sind als es dir lieb ist. Obwohl, nicht alle. Da sind ein paar, denen du noch weniger traust, als den Anderen. Sie stehen in einem kleinen, fast winzigen Grüppchen zusammen, scheinen sich gleich gefunden zu haben und als du sie dir näher anschaust versteht du weshalb – Upperclass-Kids.
Du hasst sie. Du hasst sie noch mehr, als die Jugendlichen deiner eigenen Schicht. Für sie bist du der Abschaum und sie sind es gleichermaßen auch für dich. Doch allmählich wird dir klar, dass ihr nun im selben Boot sitzt. Du wirst ihnen hier nicht aus dem Weg gehen können, und falls einer von ihnen frech wird ist dir schon jetzt klar was du tun wirst. Sie sind schließlich deutlich in der Unterzahl.

Erwachsene betreten den Raum in dem ihr alle auf etwas zu warten scheint – worauf scheint keiner zu wissen. Voller Ablehnung trittst du einen weiteren Schritt in Richtung der Ecke, die du nun schon eine ganze Weile vor anderen verteidigst.
„Guten Abend, meine Lieben“ Die Stimme dieser noch viel zu jung wirkenden Frau schien wesentlich zu rau für ihr zartes Erscheinungsbild. Du drehst die Lautstärke deines MP3-Players unmerklich lauter, dein Verstand wirft sich voller Hingabe in einen Kampf mit deiner Gewohnheit und deiner natürlichen Selbstschutzfunktion. Für einen Moment schließt du die Augen und stellst dir vor einfach wieder zuhause bei denen Freunden zu sein, versuchst das Alles hier zu vergessen, doch die Stimme der so elegant anmutenden Frau bohrt sich unaufhörlich in deinen Kopf.
„Uns ist klar wie schwer es hier für euch werden wird, doch wir sind sicher wenn ihr euch alle erst einmal näher kennen gelernt habt, Freunde gefunden habt, dann werdet ihr begreifen, dass wir euch eigentlich nur helfen wollen. Ich weiß ihr haltet all das hier für eine einzige Farce, doch seid euch bewusst: Das ist eure letzte Chance!“
Alles in dir scheint sich zu drehen, immer wieder hallt der letzte Satz in deinen Ohren wieder und dir wird langsam, fast schleichend klar wie Recht sie hat. Wie in Trance gehst du auf das Zimmer das man dir gerade zugeteilt hat, geradewegs hinein in dein neues Leben mit all seinen Hindernissen und Schwierigkeiten. Doch irgendetwas in dir ist sich mittlerweile sicher, dass es eine gute Seite haben wird.